Samstag, 23. Juli 2016

Zweite Leseprobe - "Der Nostradamus Coup"



13. Juli 1781, Abtei Cambron, österreichisch-habsburgisches Flandern

 



Die Kutsche mit den beiden adeligen Reisenden rollte über gepflegte Kieswege, entlang einer parkähnlichen Gartenanlage, an deren Ende man einen riesigen, aufgestauten Teich mit künstlichen Inseln und Rosenrabatten an seinen Ufern erkennen konnte. Die Alleen, gepflegt und von Blumenbeeten unterbrochen, liefen auf ein imposantes Einfahrtstor zu, das sogar einem fürstlichen Schloss zur Ehre gereicht hätte.

Die Abtei selbst, auf einer Anhöhe am Ende einer majestätischen und beeindruckend langen Freitreppe gelegen, zeugte vom Reichtum und der Macht der Zisterzienser. Hinter der Treppe erhob sich ein mehr als sechzig Meter hoher Turm zwischen den ausgedehnten Bauten.

„Der Leuchtturm des heiligen Bernhard!“ De Ligne lächelte.

Graf Falkenstein hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt und war vom Glanz und der Eleganz der Anlage sichtbar überrascht. „Ich habe selten ein so … prächtiges Kloster gesehen“, gestand er seinem Begleiter, nach Worten suchend, während die Kutsche das hohe Tor im klassischen Stil, mit Säulen und Heiligennischen, passierte. „Alles sieht so … neu aus.“

„Das kann Eure Exzellenz kaum verwundern, wenn man bedenkt, dass die letzten Bauarbeiten vor kaum zehn Jahren beendet wurden“, gab de Ligne zu bedenken, bevor er sich wieder seinen Reisenotizen zuwandte. „Und das Wort, das Eure Exzellenz gesucht haben, lautet wohl – opulent.“

„Wie Recht Er hat“, murmelte Falkenstein, „wie Recht Er hat. Opulent.“

Die Kutsche rollte an den Wirtschaftsgebäuden vorbei und hielt auf den Eingang der Abtei zu.

„Hat Er uns angemeldet?“, wollte Falkenstein wissen.

„Ich habe heute Morgen einen Boten gesandt“, antwortete de Ligne. „Man sollte uns also erwarten.“

Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Doppelflügeltür, und ein massiger, großgewachsener Mönch trat auf den Vorplatz. Seine wachen Augen schauten den Neuankömmlingen in der Kutsche ein wenig besorgt entgegen. Während er sich mit der Hand über seinen grauen Haarkranz strich, der eine spiegelnde Glatze umrahmte, flatterten die graue Tunika und das schwarze Skapulier im Sommerwind. Hinter ihm erschienen nach und nach rund ein Dutzend Mönche, die etwas zögerlich Aufstellung links und rechts des Portals nahmen.

„Seht, der Abt erwartet uns bereits.“ De Ligne selbst wartete nicht ab, bis einer der Diener den Schlag der Kutsche geöffnet hatte. Er sprang aus der noch rollenden Kutsche und eilte geradewegs auf den Abt zu, um ihm die Hand zu schütteln.

„Durchlaucht, es ist uns eine große Ehre, Sie in unserer Abtei willkommen zu heißen …“ Es war nicht der Abt, sondern sein Stellvertreter Florent Pépin, der die beiden Reisenden empfing. Seine Stimme war voll und tief und verriet Selbstsicherheit. Er verneigte sich und entschuldigte Abt Malachie Hocquart, der schwer krank darniederlag. Dann schaute über de Lignes Schulter und fragte: „Wer begleitet Euch auf Eurer heutigen Reise? Ist …?“ Pépin  verstummte überrascht, als Graf Falkenstein aus der Kutsche stieg und sich kurz umsah, bevor er auf die Gruppe von Mönchen zuschritt. „Mein Gott, es ist …“ Der Stellvertreter des Abts sank in die Knie und konnte seine Augen nicht von Falkenstein abwenden. „Majestät, welche Ehre …“



Die Mönche standen erst erstarrt, dann taten sie es ihm gleich, knieten nieder und senkten die Köpfe.

De Ligne hingegen lächelte seinem Reisebegleiter zu. „Ihr seid einfach zu bekannt, Majestät. Euer Inkognito ist dünn wie Seidenpapier. Da nützt keine Verkleidung und kein staubiger Mantel.“

Josef II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, König von Böhmen, Kroatien und Ungarn, Herrscher über halb Europa, nickte nachdenklich und bedeutete den Mönchen, sich zu erheben.

„Wahrscheinlich habt Ihr Recht, mein Freund“, meinte er an Fürst de Ligne gewandt. „Die Zeit der unbeschwerten Reisen geht zu Ende. Man erkennt mich ja schon überall. Selbst in abgelegenen wallonischen Zisterzienser-Klöstern …“

„Vor allem in Klöstern und Abteien“, ergänzte de Ligne ironisch. „Da kennt und fürchtet man Euch.“

Der Kaiser winkte ab. Als in diesem Moment ihm zu Ehren die Glocken der Klosterkirche zu läuten begannen, verzog er das Gesicht. „Die Glocken sind die Artillerie der Geistlichkeit. Damit schießen sie uns in Grund und Boden.“   

 Eine Stunde später, nach einer ausgedehnten Führung durch Park und Abtei, hatte Pépin seine illustren Gäste zu einem rasch improvisierten Mahl eingeladen, für dessen Einfachheit er sich immer wieder aus Neue entschuldigte. Selbst als de Ligne den Wein, das Bier und die ausgezeichnete Wildpastete lobte, sagte der Mönch: „Wenn ich gewusst hätte, dass Majestät uns die Ehre geben, dann wäre ich … hätte ich …“

Joseph II. unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. „Haben sich die Zisterzienser nicht einer einfache Lebensweise verschrieben? Nun, dieses Mahl hätte auch am Hof in Wien jedermann zufrieden stellen können. Und ich bin an diesem heißen Tag nicht wegen der Völlerei nach Cambron gekommen. Fürst de Ligne deutete an, Ihr würdet mir von einer ganz besonderen Geschichte berichten, die sich im vierzehnten Jahrhundert hier abgespielt hat.“

Pépin nickte eifrig und erhob sich. „Nur zu gerne, Majestät. Wenn Ihr mich begleiten würdet?“

Joseph II. stand auf und bedeutete de Ligne, hier zu warten, was sich der Fürst angesichts der Köstlichkeiten auf der langen Tafel nicht zweimal sagen ließ. Dann folgte er dem Stellvertreter des Abts.

„Was soll das?“, fragte der Kaiser wenig später irritiert, als er neben Pépin vor einem der eindrucksvollen, ausladenden und reich verzierten Beichtstühle in der Klosterkirche stand.

„Nun, Majestät, wie Ihr wisst, sitze ich normalerweise in der Mitte und die bußwilligen Sünder in den Seitenflügeln“, erklärte Pépin leise. „Sie beichten ihre Sünden, ich erteile ihnen Absolution und erlege ihnen eine Buße auf.“ Er schaute auf den Kaiser hinunter, der einen guten Kopf kleiner war, als er. „Diesmal ist es umgekehrt. Seid Ihr nicht Kaiser von Gottes Gnaden? Seid Ihr es nicht, der auf eine Rückbesinnung auf den katholischen Glauben und damit auf einen religiös begründeten Zusammenhalt des Staates abzielt? Unterstehen wir unsererseits nicht Eurer Gnade und Eurem Wohlwollen? Nun, dann ist Euer Platz diesmal in der Mitte des Beichtstuhls, während ich den harten Sitz des armen Sünders einnehmen werde. Denn glaubt mir eines, Majestät, der Beichtstuhl ist er einzig richtige Platz für die Einzelheiten dieser Geschichte, die Ihr von mir fordert. Danach sollt Ihr darüber entscheiden, was mit meiner Beichte geschieht. Die Verantwortung liegt dann bei Euch.“

Damit ließ er Joseph II. stehen und ging mit raschen Schritten zur rechten Seite des Beichtstuhls, zog die hölzerne Tür auf und verschwand im Inneren.

Der Kaiser blieb zurück, verwirrt und für einen Moment unschlüssig. Doch dann siegte seine Neugier und er folgte Pépin in den Beichtstuhl.  

Mehr als eine halbe Stunde war vergangen, als Joseph II. bleich und angespannt wieder ins Kirchenschiff trat.

Pépin kniete bereits im Mittelgang, tief versunken im Gebet. Es roch nach Weihrauch und erloschenen Kerzen.

Der Kaiser überlegte für einen Moment, zu ihm zu gehen, weiter nachzufragen, doch dann drehte er sich abrupt um und verließ die Klosterkirche. Er hatte genug gehört, ja, bereits zu viel.

Wie in Trance ging er zur Kutsche, stieg ein und schickte einen der Diener nach de Ligne. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken rasten, und er fragte sich zum hundertsten Mal, ob das möglich sei, was Pépin ihm geschildert hatte. An den Schritten, die sich der Kutsche näherten, erkannte er den Fürsten, und er öffnete die Augen wieder. Da fiel sein Blick auf ein kleines Päckchen, das wohl einer der Mönche auf der Sitzbank gegenüber deponiert hatte.

„Geht es Euch gut, Exzellenz?“, hörte er de Ligne besorgt fragen und nickte nur, wog den Umschlag in seiner Hand, zögerte hinein zu sehen.

„Was habt Ihr da?“, erkundigte sich der Fürst weiter und beugte sich neugierig vor. „Eine Wegzehrung für die Reise zurück auf mein Schloss? Ich für meinen Teil brauche heute nichts mehr zu essen …“

Stumm riss Joseph II. den Umschlag auf. Darunter kam ein altes, in rötliches Leder gebundenes Büchlein zum Vorschein, und der Kaiser wusste mit einem Mal, was es war.

„Hat die Abtei Euch etwa …?“, setzte de Ligne mit großen Augen an, aber der Kaiser wehrte ab.

„Fahren wir!“, entschied er und nahm das Buch in beide Hände. „Ich muss zurück nach Wien. Wenn Nostradamus gewusst hätte, was er in Händen hielt, dann hätte er es niemals veröffentlicht. Ganz im Gegenteil.“  

 

*

 

Pépin und die Mönche blickten der Kutsche lange hinterher. In einer Staubwolke, die in der späten Sommersonne golden glänzte, wurde sie immer kleiner und verschwand schließlich am Ende der Allee.

„Gott allein weiß, ob ich der Abtei, unserem Orden und dem Andenken Bernard de Clairvaux heute ein gutes Werk getan habe“, sagte Pépin nachdenklich. „Vielleicht gibt es auf dieser Welt Geheimnisse, die besser im Verborgenen bleiben sollten.“  

 

*

 

Die Befürchtungen des Abtes bewahrheiteten sich rasch. Zwei Jahre nach seinem Besuch reihte Joseph II. die Abtei Cambron in die Kategorie der „unnützen Klöster und Abteien“ ein und beschloss deren Aufhebung.



Am Vormittag des 26. Mai 1789 traf eine Delegation berittener Soldaten ein, die sämtliche Bilder, Dokumente, Handschriften, Inkunabeln und Akten aus dem Kloster einsammelten, in Kisten verpackten und auf einen vierspännigen Wagen verluden, der ohne Umwege, aber unter schwerer militärischer Bewachung nach Wien zurückkehrte.

Einen Tag später wurden die Mönche verjagt, die Abtei blieb menschenleer zurück.

Einige Wochen später waren die zurückgelassenen Bücher der Bibliothek bereits in alle Winde zerstreut.

Einige Monate später war der Großteil der verbliebenen Möbel gestohlen, verschwunden in nahe gelegenen Bauernhöfen, den Wohnungen und Häusern des Landadels oder von Händlern verschachert.

Einige Jahre später wurden die noch verbliebenen Gebäude verkauft und von den jeweiligen Besitzern nach und nach demoliert.

Joseph II. hatte sein Ziel erreicht. Cambron war nur noch ein Schatten seiner selbst, die Erinnerungen an die Verse des Yves de Lessines getilgt.

Der Kaiser hatte die späte Schlacht gegen den Heiligen Bernhard gewonnen.

Doch genießen konnte er seinen Sieg nicht mehr. Er starb im Februar 1790 an Tuberkulose.

Nur wenige trauerten um ihn.

        Das Buch mit den Versen von Yves de Lessines, das Pépin dem Kaiser zun Geschenk gemacht hatte, war spurlos verschwunden.

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