Samstag, 5. September 2020

Leseprobe "Das Tartarus Projekt" 3

Doch dann gerät alles aus dem Ruder. Geheimdienste, professionelle Killer und die Polizei sind Landorff und Buschmann auf den Fersen. Die Büchse der Pandora steht weit offen und so sehr sich die beiden darum bemühen, sie wieder zu verschliessen, sie werden immer tiefer in das Leben Gregory Winters verstrickt. Seine geheimen Geschäfte, seine Regierungsaufträge, seine Entwicklungen. Tartarus steigt aus der Hölle herauf und offenbar kann ihn niemand mehr zurück schicken. 


"Hatte er in den letzten Tagen sein Glück restlos aufgebraucht? Es konnte nicht mehr lange dauern, bevor sie endgültig zwischen die Fronten geraten und auf der Agenda der Killer landen würden. Dann würde niemand mehr gnädig sein. Das hatten Winter und der junge Zahlmann erleben müssen.

Profis hatten einen Auftrag zu erledigen.

Gnade stand nicht auf ihrer Agenda.

Und auf welcher Seite hatte die Walküre gestanden? Lautete ihr Auftrag einfach: „Erschießen Sie den alten Buschmann und dann sich selbst“ und sie hielt sich bis zuletzt daran? Wer um Gottes Willen macht so etwas? Purer, sinnloser Fanatismus oder selbstlose Hingabe bis zum Tod? Eine Sekte? Eine Terrormiliz? Ein Staat im Krieg? Die Walküre hatte nicht wie ein Mitglied der al-Kaida, des IS oder einer der anderen terroristischen Gruppierungen ausgesehen. Andererseits – nicht alle Fanatiker trugen Dschihadisten-Bärte, Turbane und Pluderhosen.

Landorff wechselte von der Sonnenseite der Straße auf die schattige. Er war völlig durchgeschwitzt. Die heiße Luft aus Afrika versprach heute das Thermometer in neue Höhen zu treiben. Hitzerekord in der Großstadt ...

Misstrauisch blickte er sich immer wieder um, konnte aber selbst mit viel Paranoia keine Verfolger erkennen. Die Handys wogen schwer in seiner Umhängetasche. Alles ältere Modelle, aber jedes für ein letztes Gespräch immer noch gut genug. Und zehn Prepaid-Karten, von Franco dezent über die Theke geschoben, sollten für den Anfang auch genügen.

Ich muss Alex anrufen, schoss es Landorff durch den Kopf. Die Werkstatt kam bereits in Sicht und so zog er sein Smartphone hervor und wählte. Sein Mechaniker Matze, ein Urgestein der schraubenden Zunft, hatte den Mercedes aus Platzmangel hinter zwei anderen Wagen geparkt, die ebenfalls fertig zur Abholung zu sein schienen. Als er Landorff auf der anderen Straßenseite erblickte, winkte er ihm zu und machte sich daran, die Autos umzuparken.

„Sag bloß, du bist schon unterwegs“, begrüßte ihn Alexandra bemerkenswert munter.

„Gleich, kann sich nur mehr um Minuten handeln. Wie war die Besprechung gestern in der Firma?“

„Aufschlussreich, du wirst zufrieden sein“, meinte sie und schlürfte irgendein Heißgetränk. „Ich hab die Leitung provisorisch dem Stellvertreter meines Vaters übergeben, der schon die rechte Hand meines Onkels war und der das Unternehmen kennt wie seine Westentasche.“

„Eine weise Entscheidung“, stimmte Landorff ihr zu und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass keiner dieser Schwachköpfe von Autofahrern anhielt, als er versuchte, die Straße zu überqueren. Jetzt kam auch noch ein riesiger Lkw mit Anhänger herangedonnert …

Matze war bei Landorffs Mercedes angelangt und stieg ein.

In diesem Augenblick riss Landorff eine Druckwelle von den Füßen und schleuderte ihn über den Gehsteig, dann noch über eine Stück Grünfläche und gegen eine Parkbank, deren harte Sitzfläche sich in seine Rippen bohrte und ihm die letzte Luft raubte. Der Schmerz schoss in sein Gehirn hoch, breitete sich aus wie ein glühend heißer Tsunami und brandete wieder zurück. Er schüttelte benommen den Kopf, während der ohrenbetäubende Knall der Explosion in der Ferne verklang wie ein wütend fauchender Dämon auf der Jagd nach verlorenen Seelen.

Seine Ohren klingelten und seine Gedanken waren irgendwo verschüttgegangen. Landorff saß wie betäubt am Boden, völlig verwirrt und abwesend, sein Smartphone immer noch krampfhaft festhaltend, als sei es der Draht zu einem letzten Rest alltäglicher Normalität.  

Alexandra …

Er blickte verwirrt aufs Display und stellte fest, dass die Verbindung tatsächlich noch stand.

„Michael! Was um Himmels willen war das?“, drang es ganz leise an sein Ohr, während rund um ihn das Geschrei und das Gerenne begann. Hupen ertönten, der Verkehr stand still.

Landorff schüttelte verzweifelt den Kopf, wie um den Albtraum loszuwerden. Seine Ohren wurden wieder freier.

„Alex? Bist du noch da?“ Er erkannte seine eigene Stimme nicht.

„Ja! Was ist los?“

„Eine Explosion … auf der anderen Seite der Straße … mir tut alles weh.“

„Bist du verletzt?“

„Keine Ahnung, muss erst … muss erst aufstehen …“, brummte er und rappelte sich hoch. Der Schmerz in der Rückengegend, wo er gegen die Bank geprallt war, war erträglich. Stehen ging auch. „Sieht gut aus“, meinte er zu Alex, doch dann fiel sein Blick auf die andere Seite der Straße und ihm wurde schlecht. „Nein, es sieht gar nicht gut aus …“

Ein großer Krater, zwei Meter tief, erstreckte sich an der Stelle, wo Matze seinen Mercedes geparkt hatte. Von der Fassade der Werkstatt war nicht mehr viel übrig. Von den Passanten und Mechanikern ebenfalls nicht.

Matze …

Landorff wurde schlecht und er wollte nur mehr kotzen. Ein Einsatzwagen hielt an und zwei Polizeibeamte blickten etwas verwirrt und überrascht auf das Chaos.   

„Michael?“ Alex klang besorgt.

Landorff wandte sich ab, mit Tränen in den Augen, und begann, in die andere Richtung davonzugehen. Er kam sich dabei vor wie ein Strauchdieb, ein Verräter, ein Fahnenflüchtiger. Doch er wollte nur weg von der Werkstatt, dem Tod, dem Verderben, den endlosen Fragen.

Weg von der Büchse der Pandora.

„Ich bin gerade gestorben“, sagte er tonlos zu Alex und ein Stück weit stimmte es auch. „Sie haben eine Bombe an meinem Auto versteckt, die ist hochgegangen. Leichenteile liegen überall.“

„Oh Gott …“, flüsterte Alex und er konnte ihre Betroffenheit hören.

Krankenwagen rasten ihm entgegen, die Feuerwehr nahm ebenfalls den Weg über den Gehsteig und er drängte sich in einen Hauseingang, um sie vorbeizulassen.

„Mach dich sofort auf den Weg“, stieß Landorff hervor. „Jetzt! Verlier keine Sekunde, hörst du? Und kontrolliere den BMW, bevor du losfährst.“

„Ich kann ihn fernstarten, keine Bange“, antwortete Alexandra mit einem grimmigen Unterton in der Stimme. Der präzise analysierende Teil ihres Gehirns hatte übernommen. „Wo treffen wir uns?“

„Flughafen München, Terminal 1, Modul E. Stell dich ins Halteverbot, aber bleib im Wagen, lass den Motor laufen. Ich werde dich sehen und komme raus.“

Dann lief Landorff los, immer mit dem Rücken zur Unglücksstelle, den Kopf gesenkt wie ein wütender Bulle, der sinnlos gegen eine Meute von Matadoren antrat und dessen Tod doch schon beschlossene Sache war. Die Tränen liefen ihm über die Wangen.

Der Taxifahrer, zu dem er ein paar Hundert Meter weiter in den Wagen stieg, streckte neugierig seinen Kopf aus dem Fenster und versuchte, von seinem neben ihm geparkten Kollegen den Grund des allgemeinen Verkehrsstaus zu erfahren. Als er Landorff die Tür zuschlagen hörte, wandte er sich ihm zu.

„Zum Flughafen bitte“, sagte sein Fahrgast und lehnte sich erleichtert in die Polster zurück.

„Was ist los … da?“, fragt der Fahrer Landorff mit ausländischem Akzent und deutete voraus.

„Keine Ahnung, wahrscheinlich eine Gasexplosion.“ Landorff bemerkte, wie sehr seine Hände zitterten, und er versteckte sie zwischen seinen Oberschenkeln.

Der Fahrer nickte, wendete das Taxi und beschleunigte.

 

Das Modul E lag ganz am Ende der Flugsteige von Terminal 1 und war erfahrungsgemäß weniger frequentiert als alle anderen, wie Landorff von früheren Treffen am Flughafen wusste. Das hatte den Vorteil, dass es leichter zu überblicken war.

Vorsichtshalber ließ er jedoch das Taxi bei Modul C anhalten und schickte den Fahrer weg. Erst als der Wagen in der Ferne verschwunden war, ging er hinein und bog in den Verbindungsgang zwischen den Modulen ein. Eine italienische Reisegruppe kam ihm entgegen, die offenbar die bayrische Provinz mit dem Strand von Caorle verwechselte und aufgeregt durcheinanderschrie. Landorff schlängelte sich zwischen den bunten Hemden hindurch und lief hinüber zu Modul D, wo es bedeutend ruhiger war.

Die Passagiere einer Maschine aus London strömten durch die Schiebetüre, wartende Angehörige winkten frenetisch, Firmenchauffeure schwenkten kleine Plakate mit groß geschriebenen Namen.

Das Übliche. Beruhigende Normalität.

Im Modul E warteten einige Zeitungsleser auf die Ankunft ihrer Angehörigen und zwei Kinder tollten durch den Raum. Landorff warf einen vorsichtigen Blick nach draußen. Ein paar Kleinbusse von Hotels aus den Voralpen, ein Polizeifahrzeug mit zwei lesenden Beamten, davor ein Reisebus aus Garmisch-Partenkirchen.

Alexandra war noch nicht da.

Nach einem Augenblick des Überlegens machte sich Landorff auf den Weg zu den Toiletten, sperrte sich in eine der Kabinen ein und lehnte sich gegen die Wand. Alles war still. Er schloss erschöpft die Augen, doch die Bilder wollten nicht verblassen.

Der Krater und die Leichenteile.

Schreiende Menschen am Boden.

Matzes fröhliches Winken Sekunden vor dem Feuerball.

Fensterhöhlen in den Wänden der Werkstatt, zersplitterte Türen und ein halb eingestürztes Dach.

Ein Kaleidoskop, das sich immer schneller drehte.

Als Landorff hörte, wie die Tür einer Kabine geöffnet wurde, stieß er sich ab und lauschte mit angehaltenem Atem. Als der Neuankömmling seine Kabine verriegelte, huschte Landorff aus seiner und eilte in die Ankunftshalle. Er musste sich zusammenreißen und schlenderte langsam, wie zufällig, an den Schiebetüren vorbei, warf einen Blick auf die kleine Parkbucht.

Der schwarze 7er-BMW hielt gerade vor dem Ausflugbus, Alex parkte ein und Landorff lief los, riss die Beifahrertür auf, ließ sich auf den Sitz fallen.

„Nichts wie weg!“, zischte er und Alexandra überlegte nicht lange. Die schwere Limousine drängte vorwärts. Landorff ließ die Parkbucht, die hinter dem Wagen immer kleiner wurde, nicht aus den Augen.

Niemand folgte ihnen.

„Wir sind jetzt zwar auf allen Überwachungskameras zwischen Autobahnausfahrt und Flughafengelände zu sehen, aber man kann nicht alles haben.“ Landorff warf seine Tasche auf den Rücksitz und hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit dem Anschlag tief auszuatmen. „Wenn Matze meinen Mercedes nicht zugeparkt hätte, wäre ich nicht mehr hier“, erklärte er Alexandra. „So hat er ihn gestartet und nicht ich, ein schwerer Lkw hat den größten Teil der Druckwelle abgefangen, der fuhr genau zum Zeitpunkt der Explosion an mir vorbei. Und ich hab mich noch geärgert über den rücksichtslosen Fahrer …“

Er zeigte nach links.

„Nimm die Straße Richtung Erding, wir verschwinden über die Dörfer.“

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