Samstag, 5. September 2020

Leseprobe "Das Tartarus Projekt" 1

 Der neue Thriller, in dessen Mittelpunkt ein ziemlich erfolgloser Autor namens Michael Landorff und eine professionelle Pokerspielerin steht, beginnt ganz und gar nicht aufregend - auf einer Party. Dort findet Landorff in Person von Melissa Warttemberg eine neue Agentin, nachdem sich sein Agent nach Marokko abgesetzt hatte und sich nur mehr in Form von Ansichtskarten ab und zu meldet. Warttemberg, erfolgreiche Marketingexpertin mit einem vollen Portfolio an Prominenz und Marken, nimmt das "Projekt Landorff" mit der ihr eigenen Art in Angriff. Sie läßt keinen Stein auf dem anderen....

 

"Es gibt Häuser, die man gerne selbst hätte, dachte Landorff und blickte an der Fassade hoch. Dann gibt es solche, die bleiben für immer Traumhäuser und man weiß es. Weil sie einfach eine Nummer zu groß, einen Tick zu weit weg oder schlicht und einfach bereits seit Generationen in ein und derselben Hand sind. Und schließlich sind da noch Häuser, die man mit offenem Mund bestaunt, völlig hin und weg ist, aber die man nicht haben will, weil die monatlichen Nebenkosten jenen Kleinkredit verschlingen, den man sowieso nicht bekommt.

In einem Palast der letzten Kategorie lag das Büro von Melissa Warttemberg. Die Mischung von alter Bausubstanz mit Glas, Edelstahl und Sichtbeton trug die Handschrift eines prominenten Architekten, der sonst nur Regierungsgebäude oder Nobelhotels konzipierte, aber eine Ausnahme machte, wenn man ihn persönlich kannte, auf Knien die Stufen zu seinem Büro hochrutschte und dabei noch das nötige Großgeld vor sich her schob.

Das Penthouse mit Blick auf halb Schwabing, inklusive des Englischen Gartens als grüner Fußabstreifer, wurde wohl als Perle in der silbernen Auster konzipiert. Als Landorff aus dem Fahrstuhl ausstieg und vor dem atemberaubenden Ausblick durch die Panoramascheiben stand, hatte er das Gefühl zu schweben und ihm fehlten die Worte. Vor allem, als sein Blick auf den ausladenden Empfang fiel, wo zwei ehemalige Miss-World-Kandidatinnen um die Wette lächelten – gleich neben einer lebensgroßen Pappmascheefigur von Heino, die schwarz behandschuhte Faust mit dem Mikrofon angriffslustig vorgestreckt.

„Guten Morgen“, flötet eine der beiden. „Sie werden erwartet?“

Landorff nickte und bemerkte den Restalkohol, der seinen Kopf schwer machte und träge in meinem Gehirn hin und her zu schwappen schien.

„Ich komme zu Melissa … ich meine Frau Warttemberg. Wir haben einen Termin um zehn.“

„Ooh, dann haben Sie ja noch ein wenig Zeit“, hauchte die Grazie nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. „Möchten Sie inzwischen einen Kaffee?“ Sie wies auf eine riesige Ledergarnitur, die für ein Sit-in gereicht hätte.

„Schwarz, stark, heiß und groß“, regte Landorff an, worauf ihn die Empfangsdame anstrahlte und begeistert nickte. „Kommt sofort!“

Wer allerdings tatsächlich sofort kam, war Melissa, in schickem Business-Kostüm und trendigem tibetanischen Schal. Wahrscheinlich ein Geschenk des Dalai Lama und signiert, vermutete Landorff insgeheim.

„Du bist ja schon da!“, wunderte sie sich, betrachtete misstrauisch die große Sporttasche in Landorffs Hand und schob ihn unzeremoniell durch die Glastür in Richtung Allerheiligstes. „Immer geradeaus. Bist du noch lange auf der Party geblieben?“

„Nur bis die beste Whisky-Flasche leer war“, meinte Landorff und verzog das Gesicht. Die Kopfschmerzen setzten ein. „Bin im Garten zu einer Runde von Wissenschaftlern gestoßen, die sich über irgendwelche unbekannten Krankheiten unterhalten haben. Meist auf Latein. Hat mich aber nicht gestört, da trinkt es sich ruhiger. Und du?“

„Ich bin nach einem interessanten Gespräch mit dem Innensenator so schnell wie möglich verschwunden. Wusstest du, dass die Stadt eine Imagekampagne plant?“ Melissas Lachen war ansteckend. „Wir haben noch schnell ein Brainstorming vereinbart, bevor Winter mich nach Hause gebracht hat. Ich denke, der ganze Auftrieb ging ihm auf die Nerven und er nahm einen Kurzurlaub von seiner eigenen Party.“

„Hatte er da sein Töchterchen schon wieder unter Kontrolle?“

„Ich vermute, er hat sie eingesperrt, den Schlüssel weggeworfen und den Gorilla in den Zoo zurückgeschickt“, lachte Melissa und mit einem Blick auf meine Sporttasche: „Gehst du nachher zum Training?“ Sie stieß die Tür zu ihrem Büro auf, das die Ausmaße einer Junggesellenwohnung hatte.

„Nichts liegt mir ferner“, brummte Landorff und ließ die Sporttasche auf den ovalen Sitzungstisch fallen. „Ich halte es mit Winston Churchill: Sport ist Mord. Lass dich nicht von der Verpackung täuschen. Du wolltest meine Bücher, nun, hier sind sie. Außerdem der Lebenslauf, ein Interview, Zeitungsausschnitte, alles wie gewünscht.“

Ein wenig stolz holte er die Schmöker aus der Tasche und baute einen Stapel von 4600 Seiten auf.

„Soll ich das alles lesen?“, fragte Melissa verwundert und wog das oberste Werk in ihrer Hand. „Fast ein Kilo Papier für …“ – sie ließ die letzten Blätter durch ihre Finger gleiten – „… 804 Seiten. Das muss alles kürzer werden.“

Der Thriller knallte zurück auf die Tischplatte.

„Wer hat heute noch so viel Zeit? Zwischen Blog und Twitter, Facebook und Xing, SMS, Kik, YouTube und Google News soll ich noch 804 Seiten lesen? Vom Fernsehen ganz zu schweigen ...“

„Sag mal, musst du mir jeden Tag eine Depression stricken?“, ärgerte sich Landorff und legte auch noch die drei Taschenbücher auf den Stapel. Fast ein Laufmeter Geschichten, dachte er, viel Arbeit in den letzten neun Jahren.

„Beängstigend“, meinte Melissa kopfschüttelnd. „Da liegt noch viel Arbeit vor uns.“

Der Kaffee wurde serviert und die Empfangsdame stellte unaufgefordert eine Kanne Früchtetee daneben, dann noch Plätzchen und einige Sandwiches.

„Wie meinst du das?“, erkundigte sich Landorff, während er andächtig das tiefschwarze köstliche Gebräu schlürfte.

„Literatur muss heute leicht konsumierbar sein“, begann Melissa, „egal, was es ist oder worum es sich dreht. Kurz, prägnant, klipp und klar, einprägsam. Ideale Seitenanzahl 180 bis 220, in U-Bahn-fähige Abschnitte eingeteilt.“

„Häh?“

„Fünf Stationen à drei Minuten ergibt maximal eine Viertelstunde“, erklärte Melissa geduldig. „Länger fahren nur Pendler. Und die spielen meist auf ihrem Handy und lesen keine Schinken, schon gar nicht so schwere Hardcover. Wie soll man die überhaupt transportieren? Handtaschen sind groß, aber bereits überfüllt mit allem, was frau so tagsüber braucht. Inklusive kleiner Zwischenmahlzeiten. Und Männer schauen sowieso eher Bilder an. Wenn die wirklich lesen, dann muss es um spärlich bekleidete Frauen, schnelle Autos oder Hardcore-Grillen, Fußball und eiskaltes Bier gehen. In dieser Reihenfolge. Oder?“ Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch und sah Landorff fragend an.

„Was in deinen Büchern ja wohl nur am Rand der Fall ist“, schloss sie messerscharf.

„Ja, aber meine Geschichten sind nun mal lang und können nicht auf ein paar Seiten erzählt werden“, wagte Landorff einen Einwurf.

„Papperlapapp, jede gute Geschichte kann in einem Satz zusammengefasst werden.“ Melissa schnupperte an den Sandwiches. „Außerdem kommt es sowieso nicht darauf an, was genau zwischen den beiden Buchdeckeln steht, sondern darauf, wie gut man es verkauft. Es ist ein Spiel mit einfachen Regeln. Hier gewinnt der, der am meisten Bücher unters Volk gebracht hat. Und nicht der, der mit fliegenden Druckfahnen intellektuell gut aussehend untergeht.“

„Du meinst, egal was für ein Blödsinn, Hauptsache die Werbekampagne stimmt?“ Landorff war knapp davor, seine Bücher wieder in der Sporttasche zu verpacken und gebückt nach Hause zu schleichen.

„Soll ich dir Beispiele nennen oder kommst du selbst drauf? Jeden Tag erscheinen Machwerke, die die Welt nicht braucht, die aber trotzdem in sechsstelligen Auflagezahlen verkauft werden.“ Mit spitzen Fingern deutete Melissa auf den Bücherturm. „Dein Ansatz ist komplett falsch und das müssen wir ändern. Damit beginnen wir.“ 

Es klang final, unabwendbar und Landorff fügte sich in sein Schicksal. „Wie stellst du dir das vor?“

Melissa blieb ihm die Antwort schuldig und fragte stattdessen: „Hast du deinen Lebenslauf mitgebracht?“

Er schob ihr das Blatt über den Tisch zu und seufzte leise. „Der wird dich nicht wirklich begeistern, das weiß ich jetzt schon. Zu wenig Skandale, keine Vorstrafen, abgeschlossene Schule, ja ich habe selbst brav den Dienst beim Heer abgeleistet und war nicht aktiv in der Friedensbewegung …“ 

 „Damit lässt sich kein Staat machen“, bestätigte Melissa unerbittlich, nachdem sie die Seite überflogen hatte. Die Liste segelte auf die Tischplatte. „Eklige Drogen? Publikumswirksame Verhaftungen? Skandalöse Schlagzeilen? Schmutzige Fotos? Ein Harem, über mehrere Länder verstreut? Uneheliche, kiffende Kinder? Insolvenz und Gerichtsvollzieher?“

Landorff schüttelte nur stumm den Kopf.

„Du machst es mir nicht leicht. Also müssen wir improvisieren und etwas aus dem Boden stampfen. Du brauchst eine neue Vita.“

„Was ist so schlecht an der alten?“, wagte er einen matten Einwurf. „Die begleitet mich jetzt schon fast fünfzig Jahre lang. Gute Schulbildung, Studium, Ausbildung zum Journalisten, Job bei einer Nachrichtenagentur, beim Fernsehen und und und ...“

„Das reißt keinen vom Hocker, das ist langweilig, alltäglich, nicht bunt genug für einen Bestsellerautor.“

„Ich kann ja nicht …“

„Du kannst!“, unterbrach ihn Melissa bestimmt und griff nach dem Telefon. „Und außerdem ist dein Outfit grottig. Petra? Kannst du bitte mal raufkommen?“

„Was heißt hier grottig?“, erkundigte sich Landorff pikiert. „Was stört dich an meiner Kleidung? Und wer ist Petra?“

„Petra ist meine Spezialistin fürs Aufbereiten von Lebensläufen“, meinte Melissa, als wäre es das Natürlichste der Welt. „Du glaubst ja gar nicht, was sich alles so aus der Vergangenheit von Menschen machen lässt, wenn man nur ein wenig sucht. Und ein wenig … anders bewertet, umschreibt oder übertreibt.“ Sie lachte. „Gilt für Firmen übrigens genauso. Wer will schon wissen, dass der Wert der Aktien seit Monaten auf Talfahrt ist? Klingt da Konsolidierung nicht besser? Oder Marktbereinigung?“

„Verstehe“, murmelte Landorff griesgrämig.

„Aber grottig heißt trotzdem grottig.“ Melissa mustert ihn von oben bis unten. „Du brauchst einen unverwechselbaren Stil und nicht dieses Kik-Desaster.“

„Lindenberg-Hut, maßgeschneiderter Kilt und Laufschuhe in pink?“, schlug Landorff stirnrunzelnd vor.

„Gar keine schlechte Idee, wenn wir das Darunter weglassen, ganz in der Tradition der Schotten, und du lässt dich von ein paar Paparazzi beim Aussteigen aus dem Auto fotografieren wie Paris Hilton.“ Melissa machte sich ein paar Notizen.

„Vergiss es!“, zischte Landorff und bereute augenblicklich seine blöde Bemerkung von vorhin. In diesem Moment schwang die Tür auf und die Lebenslauf-Fälscherin, wie er die ominöse Petra insgeheim getauft hatte, schwebte ins Büro. Langbeinig und schlank konnte sie auch als Besitzerin eines Schönheitssalons in der Münchner Innenstadt durchgehen. Brille, kurze Haare, Hosenanzug von Zara und High Heels, die Landorff schon beim bloßen Hinsehen Fußschmerzen verursachten.

Ihr strahlendes „Hallo!“ inmitten einer dezenten Parfümwolke war entweder perfekt einstudiert oder angeboren, dachte Landorff. Auf jeden Fall hinreißend.

„Wir haben hier ein neues Projekt, Petra, und das erfordert unsere gesamte Aufmerksamkeit. Herr Landorff ist Thriller-Autor.“ Melissa deutet auf den Bücherturm. „Zu viele Seiten, mitreißende Geschichten, zu wenig Verkäufe, hilflose Ex-Agenten, desinteressierte Verlage.“

Ich hätte es in dieser Kürze nicht besser auf den Punkt bringen können, dachte Landorff und sein Selbstbewusstsein sank.

Petra hingegen lächelt wissend und nickte verstehend."

 

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