Mittwoch, 22. Mai 2013

"Heiss" - Leseprobe 3



Montag, 13. Mai 1935,  Clouds Hill, Dorset / Großbritannien


  


  Der Mann, der aus dem weißen, schmalen Haus mit den blaugrün gestrichenen Fenstern und dem bemoosten Dach unweit der großen Bowington-Militärkaserne trat, war schmächtig und klein. Er mochte Mitte vierzig sein, mit dichtem blondem Haar über einer hohen Stirn und forschenden blauen Augen, die ein wenig misstrauisch, oft auch melancholisch in die Welt blickten.

Fast mechanisch sah er hinauf zu dem tiefblauen Himmel, an dem nur ein paar Schönwetterwolken zu sehen waren. Es würde ein schöner Nachmittag ohne Regen und Gewitter werden. Doch mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Der Brief, den er heute Morgen von seinem Freund Henry Williamson erhalten hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Williamson, ein bekannter Schriftsteller, hatte sich, desillusioniert von seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und den Entwicklungen der Nachkriegszeit, den britischen Faschisten unter Sir Oswald Moslay angeschlossen und in der Partei Karriere gemacht. Die Einladung zum gemeinsamen Mittagessen, die der Postbote vor wenigen Stunden in das Cottage in Clouds Hill gebracht hatte, kam seinem Bewohner gerade Recht. Wie viele seiner Zeitgenossen in England, aber auch in Europa, war er enttäuscht vom politischen Geschehen  nach der Konferenz von Versailles. Seine Träume, für die er gekämpft und getötet hatte,  waren seit Langem geplatzt. Vielleicht hat Williamson ja Recht, dachte er, und die treibende Kraft der neuen Zeit saß in Berlin.

Er zog die Tür des kleinen Hauses mit den niedrigen Decken zu, das er vor Jahren gemietet und schließlich gekauft hatte, und überlegte für einen kurzen Moment, abzuschließen. Dann verwarf er den Gedanken wieder. Das hier war nicht London, sondern tiefste englische Provinz. Außerdem besaß er keine Schätze. Was sollte man bei ihm schon stehlen? Und das Wissen in seinem Kopf, das konnte ihm niemand nehmen. Er ganz allein würde darüber entscheiden, mit wem und ob er es je teilen würde. Vielleicht mit dem neuen deutschen Kanzler?

Sollte er tatsächlich mit Hitler zusammentreffen? 

Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Sicher ein verlockender Gedanke. Die Einladung nach Berlin lag bei Moslay und Williamson würde sie ihm morgen beim Mittagessen übermitteln.

Der Führer wollte ihn sehen. 

Es war warm und der Frühling schien endlich auch England erreicht zu haben. Der perfekte Tag, um seine geliebte Brough Superior aus der Garage zu holen, dachte der Hausherr und verzichtete darauf, den kurzen Ledermantel zu nehmen. Stattdessen schlüpfte er in eine Jacke,  ging um das Cottage herum und rollte geschickt die mächtige Maschine aus ihrem Verschlag. Es war das siebte Motorrad des bekannten englischen Herstellers, das er in den vergangenen zwölf Jahren gekauft hatte. Tatsächlich war er einer von Broughs bekanntesten und besten Kunden. Als fanatischer Sportsmann und Motorradfahrer war er auf seinen Maschinen kreuz und quer durch England gereist. Dabei waren Strecken von fünfhundert Meilen am Tag keine Seltenheit, selbst auf den oftmals schlechten Straßen der Insel. Der Jaeger-Tachometer, der nun als Sonderausstattung seine 70 PS starke SS100 zierte und dessen Skala bis 120 mph anzeigte, reichte trotzdem nicht für die Leistungsfähigkeit seiner Maschine aus. Oft genug war der kleine Mann auf den Landstraßen mit über 200 km/h unterwegs. Nicht nur der Hersteller George Brough, sondern auch die Presse bezeichnete ihn als einen der besten Motorradfahrer des Landes.

Nach nur einem Tritt auf den Kickstarter erwachte der Zweizylinder zum Leben. Während er die Maschine mit dem Kennzeichen GW 2275 warm laufen ließ, zog er seine Handschuhe an und setze die Motorradbrille auf. Bis zum Postamt nach Bovington, einem kleinen Ort, der aus einer Handvoll in der flachen Landschaft verstreuter Häuser und Bauernhöfe bestand, waren es keine zwei Meilen. Sollte er noch einen kleinen Ausflug nach Weymouth ans Meer anhängen, nachdem er das Telegramm mit der Antwort auf Williamsons Einladung abgeschickt hatte? Die vierzig Meilen hin und retour würden ihm gut tun.

Der Auspuff der frisierten Brough klang wie die Fanfaren von Jericho und brachte die Scheiben des kleinen Hauses zum Vibrieren. Er ließ die Kupplung kommen und fing geschickt das ausbrechende Hinterrad der starken Maschine ab, das auf dem Schotter unter dem Ansturm der Pferdestärken sofort durchdrehte. Ein Spielchen, das er oft spielte. Er liebte schnelle Motorräder, den Rausch der Geschwindigkeit, das Risiko und das Gefühl der Stärke.

Die Straße entlang Bovington Camp war auf einer Strecke von fast einer Meile so gut wie schnurgerade. Ein paar kleine Schikanen, wie er es nannte, leichte Kurven, aber nichts Besonderes. Schnell pendelte sich die Nadel des Tachometers bei 80 Meilen ein. Die Brough war noch nicht auf Betriebstemperatur, der Wind im Gesicht hingegen überraschend warm. Der Anblick der tristen, grauen Kasernenbauten, an denen er vorbeifuhr, erinnerte ihn daran, dass er erst vor Kurzem aus der Armee ehrenvoll entlassen worden war. Ein neuer Lebensabschnitt war angebrochen.

Vielleicht würde er ihn nach Deutschland führen.

Das kleine Postamt des Ortes hatte die Atmosphäre eines übergroßen Wohnzimmers. Arthur, der kahlköpfige Beamte mit den Ärmelschonern, saß seit Jahrzehnten hinter der hölzernen Absperrung mit dem kleinen Sichtfenster. Er kannte alle und jeden, war oft genug Psychiater und Seelsorger seiner Kunden, und züchtete nebenbei Kaninchen, die er unter der Hand verkaufte. Arthur wusste alles, zumindest wenn es um Bovington und Umgebung ging. So horchte er überrascht auf, als er die Brough herandonnern hörte und der Motor vor dem Postamt erstarb. Wenige Augenblicke später betrat der schmächtige Mann den Raum, die Motorradbrille auf der Stirn, sah sich kurz um und bemerkte mit Genugtuung, dass außer ihm keine Kunden warteten.

„Hallo Arthur, ich möchte ein Telegramm aufgeben!“, begrüßte er den Beamten und schob ein Stück Papier unter der Glasscheibe durch. „Hier die Adresse des Empfängers und der Wortlaut.“

„Hallo Mr. Shaw!“, nickte Arthur und überflog kurz die paar Zeilen. „Ihre Maschine ist ja nicht zu überhören. Damit könnten Sie sich kaum irgendwo anschleichen.“ Er lächelte verschmitzt. „Nicht so wie in alten Tagen. Sie sind morgen also in London zum Mittagessen?“

Shaws Augen leuchteten, als er nickte. Er kannte die Straßen zwischen Clouds Hill und der Hauptstadt wie seine Westentasche und betrachtete sie als seine ganz persönliche Rennstrecke. „Und am späten Nachmittag wieder zu Hause“, gab er zurück. „Eigentlich wollte ich jetzt noch eine kurze Spritztour nach Weymouth unternehmen, aber der Tank ist fast leer und die Kanister mit dem Benzin stehen in der Garage. Also…“ Er seufzte und zuckte die Schultern. „Kein Ausflug.“

Nachdem er bezahlt hatte, winkte er Arthur kurz zu, verließ das Postamt und schwang sich wieder auf die Brough. Nachdem er das Motorrad angelassen hatte,  fühlte er mit der rechten Hand nach dem Zylinder und stellte befriedigt fest, dass der Motor nun fast heiß war. „Gut so“, murmelte er und fuhr los.

Nachdem er in die King George V Road eingebogen war, gab er Gas. Die Brough sprang geradezu nach vorne und stürmte los wie ein Rennpferd. Nach einer viertel Meile zeigte der Tachometer 90 Meilen, Tendenz steigend. Doch dann sah Shaw weiter vorne zwei Fahrradfahrer, die auf seiner Seite der Straße nebeneinander gemächlich dahinrollten und bremste fluchend ab. Dahinter lag eine der Schikanen und ein paar Büsche versperrten den Blick auf eventuellen Gegenverkehr. Nicht der richtige Zeitpunkt für einen neuen Geschwindigkeitsrekord.

Als er nur noch hundert Yards hinter den Radlern war und mit kaum 40 Meilen durch die leichte Kurve rollte, sah er mit einem Mal den schwarzen Lieferwagen, der ihm in Richtung Bovington entgegen kam. Er beglückwünschte sich zu seinem siebten Sinn, der ihn wieder einmal vor einem Unfall bewahrt hatte. Die beiden Radfahrer hatten den Lieferwagen ebenfalls gesehen, fuhren näher an den Straßenrand und reihten sich hintereinander ein.

Shaw beschloss, den entgegenkommenden Lieferwagen abzuwarten und dann erst auf der schmalen Straße die beiden Radfahrer zu überholen. Die Fahrerkabine war auf seiner Höhe, als Shaw einen fürchterlichen Schlag gegen seinen Kopf spürte, so, als hätte jemand mit einer Eisenstange auf seine rechte Schläfe eingedroschen. In einem letzten verzweifelten Versuch verriss er die Brough zur Straßenmitte hin, um nicht die beiden Jungen auf ihren Fahrrädern niederzumähen.

Dann wurde es schwarz um ihn. Der Aufprall auf die Fahrbahn war das Letzte, was er spürte.
Corporal Ernest Catchpole vom Royal Army Ordnance Corps, stationiert in Bovington, führte gerade seinen Hund der Straße entlang spazieren, als er den Auspuff der Brough hörte. Er dreht sich um und sah noch, wie die schwere Maschine über die Fahrbahn schlitterte, wie der schwarze Lieferwagen beschleunigte und die beiden Jungen auf ihren Fahrrädern vor Entsetzen aufschrien. Dann stürmte Catchpole auch schon los.

Der Fahrer lag regungslos halb im Straßengraben und halb auf der Fahrbahn, sein Kopf war blutüberströmt.  Es roch nach Benzin und der Motor der auf der Seite liegenden Brough tuckerte immer noch vor sich hin.

Die beiden Jungen standen völlig erstarrt mit offenem Mund neben dem Verletzten, geschockt und wie gelähmt.

„Los!“, schrie sie Catchpole an, der neben Shaw in die Knie gegangen war. „Radelt los und holt Hilfe! Jetzt macht schon!“

Doch genau in diesem Moment tauchte aus einem Feldweg ein Heeres-Lkw auf und der Corporal überlegte nicht lange, sprang auf, stellte sich breitbeinig in die Mitte der Fahrbahn und zwang den Fahrer zum Anhalten. Gemeinsam hoben sie den Bewusstlosen rasch auf die Ladefläche und brachten ihn in das nur einen Steinwurf entfernte Militärhospital der Bovington Kaserne.

Dann überstürzten sich die Ereignisse.

Wie aus dem Nichts standen plötzlich Beamte der Special Branch, der militärischen Abwehr, vor dem Einzelzimmer, das man Shaw zugewiesen hatte. Catchpole und jeder andere Soldat der Kaserne mussten zum Appell antreten und erhielten den Befehl, nicht über den Unfall zu sprechen. Zu niemandem – unter Androhung langjähriger Gefängnisstrafen, basierend auf der höchsten Geheimhaltungsstufe, die das britische Militär verhängen konnte.

Code D.

Obwohl Shaw drei Monate zuvor aus der Air Force ausgeschieden war, gab das Luftfahrtministerium sofort eine Presseerklärung heraus, in der es hieß, dass es „keine Zeugen des Unfalls gegeben hätte.“

Der Chefarzt des Krankenhauses wurde in einem Gespräch unter vier Augen instruiert. Als Befehlsempfänger, der seit Jahrzehnten in der Armee war, konnte ihn nicht mehr viel überraschen. Aber als Mensch und Mediziner war er geschockt, als er an das Bett des Bewusstlosen trat und auf die schmale, fragil wirkende Figur hinunterschaute, die in den Decken und Kissen fast verschwand. Der Kopf war dick bandagiert, das Gesicht blass und eingefallen. Es würde keine weiteren Untersuchungen geben, hatte der britische Geheimdienst kategorisch festgestellt und die Ankunft einen eigenen Gehirnspezialisten angekündigt, der aus London angefordert worden war. Alles Weitere würde man sehen.

Der Mediziner ging tief in Gedanken versunken zum Fußende des Bettes, nahm das dünne Holzbrett mit dem Krankenblatt zur Hand, und warf einen Blick drauf. Dann zog er einen Bleistift aus der Brusttasche und schrieb „T.E. Shaw“ auf das weiße Papier. Er zögerte einen Moment, überlegte, und fügte schließlich darunter hinzu:

„Lawrence of Arabia“.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen