Mittwoch, 22. Mai 2013

"Heiss" - Leseprobe 4


Chief Inspector Shabbir Salams Welt ist im Untergehen begriffen.Seit er seinen alten Freund Shah Juan of Rumbor tot vor dessen Hütte liegend gefunden hat - die Leiche halb verbrannt, die Hände abgehackt - und mit unbequemen Fragen bei den Geheimdiensten aufgefallen ist, befindet er sich auf der Flucht. Aber das Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan ist alles andere als menschenfreundlich und ein Polizeichef, der mit einem Mal von den Schneeleoparden gejagt wird, hat nicht viele Optionen...

 

 Hochtal Rumbur, nahe Chitral, nordwestliche Grenzprovinz/Pakistan


Es war bereits nach Mitternacht und der Schnee auf den umliegenden Gipfeln des Hindukusch leuchtete silbern im Licht einer Mondsichel, die sich theatralisch über die Bergkämme schob. Shabbir Salam trat aus dem primitiven Schuppen, der tagsüber sein Versteck gewesen war, und blickte über das ruhige Hochtal. 
Im Geiste leistete er Zeyshans Vater Abbitte. Der dunkelgraue Pick-up war zwar an einigen Stellen verbeult und zerschrammt, aber ansonsten perfekt in Schuss. Er war sofort angesprungen, was den grinsenden Zeyshan zu der Bemerkung veranlasst hatte:  „Die Batterieansammlung auf der Ladefläche würde auch einen scheintoten Elefanten blitzartig reanimieren und auf die Beine bringen.“  Dann hatte er seinen Helm aufgesetzt und sich auf sein Motorrad geschwungen. „Besser ich fahre wieder zurück nach Chitral, sonst schöpft noch jemand Verdacht. Ich will ihr Ziel gar nicht wissen, Chief, aber was immer Sie tun, denken Sie zwei Schritte voraus. Mein Vater würde mir nie verzeihen, wenn die Sie erwischen. Und ich würde Sie vermissen.“
Salam hatte genickt, ihm stumm nachgeschaut, als die Figur auf der Motocross-Maschine immer kleiner wurde und schließlich in einer Staubfahne verschwand. Am Ende war auch der Staub verweht und der Chief Inspector allein gewesen.
Der Schuppen mit dem Toyota lag abseits der großen Straße, am Rande einer weiten, mit Felsen bedeckten Lichtung, auf der einige Schafe und Ziegen ein paar kümmerliche Gräser und Kräuter abweideten, die nach der Schneeschmelze aus dem Boden gesprossen waren. Der unbefestigte Weg, der nach dem Unterstand steil und steinig in die Berge führte, hätte jedem Off-Road-Fahrer ein Leuchten in die Augen gezaubert. Doch Salam war mit seinen Gedanken ganz woanders.
Er war noch nie in seinem Leben so einsam gewesen.
Seine Familie war ermordet worden, seine Frau weit weg in Lahore, seine Mitarbeiter zwar so nah, aber trotzdem unerreichbar fern, er selbst ein Flüchtling, der bald tot sein würde, wenn er nicht die richtigen Entscheidungen traf und die falschen Orte mied. Denn er  zweifelte keinen Moment daran, dass er zwar nach Chitral hinein, aber nie wieder lebend heraus kommen würde. 
Während er die Reifen kontrollierte und die Plane hochhob, die über die Batterien gespannt war, überlegte sich Salam seine nächsten Schritte. Er hatte keine Waffe, kaum Geld und trug die zerschlissene Kleidung eines armen Bergbewohners. In der Brusttasche seiner Weste spürte er sein altes Notizbuch und seinen Ausweis. An eine Flucht nach Afghanistan über die Grenze war nicht zu denken. Ohne Lebensmittel und warme Kleidung würde er den Weg durch die Berge nicht überleben. Die Temperaturen auf den schmalen Passwegen dort oben würden ihn schneller umbringen, als seine Verfolger es je könnten.
Sein Leben hing also davon ab, ob Llewellyn eine Lösung fand, ihn irgendwie außer Landes zu bringen.
Und wie lange er dafür brauchen würde.
Mit jeder Minute, die verging, stieg das Risiko für Salam, entdeckt zu werden. Die ISI würde immer mehr Technik, Fahrzeuge und Agenten in die Provinz bringen und zur Treibjagd blasen. Die vier Männer im BMW X5 waren nur die Vorhut gewesen. Deshalb konnte er auch nicht mehr in der provisorischen Garage bleiben. Bald würden sie die ersten Späher schicken.  
 Salam machte sich allerdings wenig Illusionen, was Llewellyn betraf. Was sollte der Major schon ausrichten? Auch er konnte keine Wunder wirken. Also ging es vorläufig darum, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Er überlegte für einen Augenblick, nach Nordosten zu fahren, tiefer in die Täler des Hindukusch, aber irgendwann würde der Tank des Toyota leer sein – und dann? Ohne Geld saß Salam in der Zwickmühle. Er musste möglichst unsichtbar bleiben, aber trotzdem telefonieren, sollte Abstand zwischen Chitral und sich bringen und doch keiner Patrouille in die Hände laufen, dringend einen sicheren Platz zum Übernachten finden und gleichzeitig nicht verraten werden.
Er trat zurück in den Schuppen und schaute auf die Uhr. Es war an der Zeit zu verschwinden. Seine Hände glitten nachdenklich über die Karosserie des Toyotas, bevor er die Fahrertür öffnete.
Wenn er nur wüsste, wohin er fahren sollte.
Schließlich ließ er den Motor des Geländewagens an und machte sich im Schutz der Dunkelheit auf den Weg, manövrierte den Geländewagen hinaus aus dem Schuppen und fuhr in Schrittgeschwindigkeit über den holprigen Weg hinunter in Richtung Fluss, ohne die Scheinwerfer einzuschalten.
In der Talsohle angekommen, lag die Hauptstraße vor ihm. Er musste eine Entscheidung treffen: links oder rechts?
Er zögerte, die Scheinwerfer einzuschalten und dachte nach. Er wollte keinen seiner Freunde und Kollegen in Gefahr bringen. In Chitral unterzuschlüpfen war also keine Option. In den Augen der ISI war ein toter Salam der beste Salam.
Tot – mit einem Mal wusste er, wohin er fahren würde.
 
Zehn Minuten später lenkte er den Toyota im Leerlauf um die letzte Kurve der schmalen Straße, die schon eher ein Weg war. Dann löschte er die Scheinwerfer und stieg aus, drückte die Tür leise zu. Die ausgebrannte Hütte von Shah Juan von Rumbur lag in der Dunkelheit wie ein schwarzes Mahnmal vor ihm, bewacht von den mysteriösen stummen Gestalten aus Holz mit ihren seltsamen Kopfbedeckungen.
Der Geruch von Rauch, kalter Asche lag noch immer in der Luft und Salam meinte gar, das verbrannte Fleisch zu riechen. In den Eichen raschelte es. Der kalte Wind stieg von den Bergen ins Tal, wie jede Nacht. Der Sommer war noch fern und wer weiß, ob Salam ihn jemals erleben würde.
Er fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht und versuchte das Bild des verkohlten Körpers seines Freundes zu verdrängen, das er immer wieder vor sich sah, wenn er zum Eingang der halb eingestürzten Hütte hinüber blickte. So wandte er sich dem Arbeitsplatz des Bildhauers unter dem Vordach zu. Trotz der furchtbaren Ereignisse schien der gute Geist Juans noch immer über der kleinen Lichtung zu schweben und Salam kam sich etwas weniger einsam vor.
Als er vor dem von unzähligen tiefen Axthieben getroffenen Holzblock stand, schaute er abermals ratlos auf die begonnene Skulptur, die nun ein unkenntliches Stück Holz war. Was war daran so wichtig gewesen, dass die Angreifer es nicht unversehrt zurücklassen wollten? Warum hatten sie es dann nicht ebenfalls angezündet? War es zu groß gewesen, um in der kurzen Zeit Feuer zu fangen oder hatte der Brandbeschleuniger nicht ausgereicht?
Salam seufzte. Aus seiner Brusttasche zog er das kleine weiße Stoffstück mit der Skizze des Holzblocks und der mystischen Zeichnung des Beschützers, ging in die Hocke und legte es auf einen flachen Stein, strich es glatt. Im Schein des Halbmondes, der nun endgültig  über der Bergkette aufgegangen war, schien der Stoff zu leuchten.
„Der Beschützer“, murmelte Salam und setzte sich neben den Stein auf den harten Boden. Er blickte über das Tal und schmeckte die kühle Luft. Irgendwo schrie eine Eule. „Stehst du allen bei, die in Not sind? Dann könntest du sofort bei mir anfangen. Meine Welt ist gerade dabei, unterzugehen. Meine Familie ist tot, meine Freunde sind in Gefahr, ich bin auf der Flucht und die Schneeleoparden jagen mich. Spielt es da eine Rolle, ob ich Kalash bin oder nicht?“
„Der tiefe Glaube spielt eine Rolle, sonst nichts“, antwortete hinter ihm eine Stimme aus der Dunkelheit und Salam zuckte zusammen. Erschreckt blickte er sich um und sah eine schmale Gestalt in wenigen Metern Entfernung, die in einen weiten schwarzen Umhang gehüllt war, der auch die Haare verbarg. Lautlos kam der Schatten näher.
Der Chief Inspector wollte aufspringen, doch die Stimme meinte beruhigend: „Bleiben sie sitzen, Chief. Sie sind doch Shabbir Salam aus Chitral, der Polizeikommandant? Die Frauen haben über Sie gesprochen.“
Salam nickte erstaunt, während die Gestalt ihren Umhang zusammenraffte und sich neben ihm niederließ. Ein Geruch von Minze wehte zu ihm herüber, als eine alte, knochige Hand zwischen den Falten des Umhangs erschien, den kleinen Stofffetzen mit der Zeichnung vom Stein nahm und aufmerksam betrachtete.   
„Und wer sind Sie?“, erkundigte sich Salam neugierig.
„Ein Geist zwischen Leben und Tod, eine der Dorfältesten. Ich werde Juan bald folgen, dahin, wo er nun ist. Ich spreche seit zwei Tagen hier mit ihm.“
Ihre Stimme raschelte wie der Wind in den Zweigen und als sie den Umhang vom Kopf abstreifte, kam ein hageres, tief zerfurchtes Gesicht zum Vorschein, mit eingefallenen Wangen und einem spitzen Kinn. Salam glaubte, sich verhört zu haben. Sie sprach seit zwei Tagen mit dem Toten? Er schloss erschöpft die Augen. Ausgerechnet jetzt begegnete er einer verwirrten Alten. 
„Ich weiß, was Sie denken“, sagte sie nachsichtig lächelnd. „Sie sind kein Kalasha.“ Als ihre leuchtend blauen Augen sich auf Salam richteten, schien es ihm, als blickten sie tief in sein Innerstes hinein.
„Juan ist noch immer hier bei uns“, raunte sie, „Sie sollten nicht um ihn trauern, ganz im Gegenteil. Er ist unsterblich.“  Sie wies auf die vielen stummen hölzernen Wächter, die sie umringten. „Nicht nur deshalb. Sondern weil unsere Sitten den Reichen vorschreiben, ihren Besitz freigiebig zu verteilen. Juan hat immer mit beiden Händen gegeben, zum Wohlergehen der Gemeinschaft beigetragen, verschwenderische Feste zu Ehren der Götter gefeiert, zu denen alle eingeladen waren. In unserem Glauben hat er damit die Unsterblichkeit erlangt. Er kann als einer unserer Ahnen über den Tod hinaus teilhaben am Leben unseres Volkes. Deshalb ist er hier. Er sieht uns und wenn Sie genau zuhören, dann können Sie ihn sprechen hören.“
Sie sprach mit einer solch tiefen Überzeugung, dass Salam versucht war, sich umzusehen, ob Juan nicht im Eingang der Hütte stand, wie so oft, und ihm zuwinkte.
„Nein, ich bin kein Kalash. Aber Shah Juan hat mir an manchen Abenden über euer Volk  erzählt“, antwortete er leise. „Doch vieles verschwieg er auch.“
„Das liegt in unserer Tradition und die ist uns heilig“, sagte die alte Frau leise. „Wer zu viel verrät, der verurteilt unsere Kultur zum Tod. Ohne die Geheimnisse, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, gehen wir unter, verlieren uns wie ein Wassertropfen im Meer.“ Sie blickte hinauf zu den Gipfeln. „Ich würde es gerne einmal sehen, das Meer.“
Die Eule schrie wieder und die Alte lächelte. Dann wandte sie sich an Salam. „Aber was hat Sie hierher zurückgebracht?“
Sie legte das Stück Stoff mit der Zeichnung vorsichtig zurück auf den flachen Stein. Dann musterte sie den Chief Inspector aufmerksam in der Dunkelheit. „Noch dazu in alten, zerrissenen Bauernkleidern und zu dieser Stunde.“
Salam überlegte sich seine Antwort sorgfältig. „Ich habe einen sicheren Platz für die Nacht gesucht“, sagte er schließlich.
Die Alte dachte kurz nach, dann nickte sie, als wäre damit alles erklärt. „Dies ist ein guter Ort“, meinte sie schließlich. „Hier wacht Shah Juan über uns. Er sprach mit den Bäumen, sie gaben ihm sogar ihren Körper für sein Werk. Er konnte die Vögel verstehen, sie waren seine Augen in der Nacht, wenn sonst niemand mehr sah. Er bannte die Geister und hielt sogar die Schneeleoparden in Schach. Er war unser Auge und unser Mund da draußen in der Welt jenseits der Berge.“
„War er der Beschützer?“, erkundigte sich Salam.
„Nein, nein“, wehrte die Alte ab. „Es gibt nur einen Beschützer der Kalash. Er lebte vor langer Zeit unter uns, bevor er mit der untergehenden Sonne verschwand. Nur der Schöpfer steht über ihm, Khodai, der alles kann, alles ist und alles erfüllt.“ Sie wies auf das Stück Stoff und die Umrisse der Figur. „Von Khodai gibt es kein Abbild und für ihn kein Heiligtum, denn er ist unerreichbar und nicht erfassbar in seiner Größe. Aber er ist es, der die Natur in seiner Hand hält, der jedes Jahr den Schnee zum Schmelzen bringt und die Knospen zum Sprießen.“
Sie wies hinunter ins Tal, wo der Ort an einem schmalen Bach lag. Kein Laut drang herauf. „Wir sind umringt von Feen und Geistern, Göttern und Dämonen, die jeden Tag unser Leben bestimmen. Sie haben seit Tausenden von Jahren ein Abkommen mit uns, gegen das man nicht verstoßen darf.“
Plötzlich begann sie zu singen, mit einer brüchigen Stimme, die Salam eine Gänsehaut über den Rücken jagte:

Es ist Winter,
geh' nicht in die Berge,
steig‘ nicht hinauf
wo die Feen Dich holen werden“

  Der Chief Inspector hatte den Eindruck, dass mit einem Mal das Rascheln in den Eichen lauter wurde. Die Alte verstummte, lauschte und hob den knochigen Zeigefinger. „Hören Sie?“
„Der Wind wird stärker.“
„Die Feen kommen näher“, antwortete sie einfach. „Manchmal steigen sie herab von den Bergen, aus der Reinheit der Höhen in den Schmutz der Niederungen. Dann sind sie gekommen, um uns zu helfen. Aber oben, auf den Bergen, da sind sie die uneingeschränkten Herrscher und verteidigen ihr Reich.“
Salam seufzte. „Vielleicht haben sie einen Zauberstab dabei, der mich unsichtbar macht.“
Die Alte musterte ihn mit einem seltsamen Blick. „Trage Schwarz in der Nacht und Weiß im Schnee“, sagte sie nur. „Und die Peri werden dich schützen.“
„Wer sind die Peri?“, fragte Salam.
„Feen aus den Bergen, die uns bei der Jagd helfen. Und dabei, unsere Feinde zu töten.“
„Dann sollte sie am besten zu Hunderten anrücken“, gab der Chief Inspector zurück und lächelte bitter.
„Nicht die Zahl ist wichtig, die Stärke ist es“, meinte die Alte listig. „Hundert Ameisen werden doch von nur einem Schuh zertreten.“
Beide schwiegen und blickten ins Tal. Die Minuten vergingen und Salam spürte die Ruhe, die ihn umgab und die sich langsam in seinen Gedanken ausbreitete.
„Wollen Sie über die Berge? Vor welchen Geistern laufen Sie davon?“, fragte die Alte ihn unvermittelt.
Salam starrte in die Nacht. „Die Schneeleoparden sind aufgewacht“, flüsterte er, „und ihre Krallen reichen bis über die Grenzen.“
„Juan hatte keine Angst vor ihnen und ich habe es auch nicht“, sagte sie. „Kommen Sie! Wir gehen.“ Sie stand auf und streckte ihre Hand aus.
Erstaunt sah Salam auf. „Wohin?“
„Ins Dorf. Sie müssen essen, trinken und schlafen. Wir werden einen sicheren Platz für Sie finden und die Männer werden bis morgen früh wachen. Lassen Sie den Wagen hier, unter den Zweigen der Bäume.“
„Ich möchte euch nicht in Gefahr bringen“, wehrte der Chief Inspector ab.
„Die Gastfreundschaft ist in den Bergen heilig“, gab die Alte zu bedenken.
„Manchen Menschen ist nichts heilig“, antwortete Salam und erhob sich. „Sie wollen Terror, Blut und Chaos und nennen es den heiligen Krieg.“
„Es gibt keinen heiligen Krieg und wenn sie das glauben, dann werden sie in der Schlacht umkommen“, flüsterte die alte Frau. Sie sah dem Chief Inspector in die Augen. „Denn in unserem Glauben ist jede Störung der Ordnung –  also Krieg –  ein Angriff auf die Götter. Und ihre Rache trifft nicht den einzelnen Verursacher, sondern alle, die daran teilnehmen. Die Sieger, aber auch die Verlierer.“
Die Alte drehte sich um und ging voran, sicheren Fußes, fand mühelos den schmalen Pfad, der ins Tal führte, und begann mit dem Abstieg. Nach den ersten Metern wandte sie sich plötzlich um und Salam wäre fast in sie hineingerannt. Sie beugte sich zu ihm und raunte in sein Ohr:  
„Und glaube mir, Shabbir Salam, die Rache der Götter ist furchtbar. Du wirst es erleben.“




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen