Sonntag, 6. August 2017

Leseprobe 2 - Der Zerberus-Schlüssel



Donnerstag, 2. Juni 2016

Glenfinnan, Loch Shiel, Schottisches Hochland


Der breitschultrige, ältere Mann, der auf der frisch gestrichenen, langen weißen Bank an der Hauswand saß, an seinem Tee schnupperte und in die Morgensonne blinzelte, hatte militärisch kurz geschnittene weiß-graue Haare und ein kantiges Gesicht. Seine eisgrauen Augen schauten etwas skeptisch und verschlafen in den neuen Tag, der laut Wetterbericht sonnig und klar werden sollte. Noch lagen einige dünne Nebelschwaden über dem See wie ein dünner Schleier, der sich im Sonnenlicht auflösen würde.
Der Ausblick auf die dunkelblauen Wellen des Loch Shiel, auf die grünen, mit Heidekraut und Buschwerk bedeckten Berge, den hohen Himmel mit den schnell ziehenden Wolken und die damit verbundenen ständig wechselnden Lichtstimmungen, faszinierten den Mann stets aufs Neue.
Seit er vor wenigen Monaten in das kleine, niedrige Haus aus dunklen Granitsteinen in der Mitte von Nirgendwo gezogen war, hatte er sich hier noch keine Sekunde gelangweilt.
Obwohl hier ganz eindeutig das Ende der Welt war, wie er sich selbst jeden Abend eingestand, wenn er vor dem Schlafengehen einen letzten Blick auf das weite Tal warf. Dann löschte er das Licht, lauschte dem Wind, der vom Wasser herauf kam und der Geschichten und Legenden vom nahen Atlantik mitbrachte.
Glenfinnan war ein kleiner Ort, selbst für schottische Verhältnisse. Ein Dutzend Häuser, die sich zwischen Steinmauern und vom Wind gepeitschten Baumgruppen duckten und etwas planlos in der Wildnis des Schottischen Hochlands verstreut lagen. Doch allen war eines gemeinsam – der atemberaubende Blick auf Loch Shiel, dem achtundzwanzig Kilometer langen tiefblauen See, malerisch eingerahmt von grünen Bergen.
Hier kannte jeder der hundert Einwohner jeden - und das seit Generationen. Die Jugend der Gegend, eine Handvoll Halbwüchsiger, die gemeinsam aufgewachsen waren und in die gleiche, zwanzig Kilometer entfernte Schule gingen, traf sich regelmäßig vor dem Postamt, dem sozialen Hotspot Glenfinnans, das zugleich auch Tante-Emma-Laden und Nachrichtenbörse war.
Mehr städtisches Leben konnte man in Glenfinnan nicht erwarten, beim besten Willen nicht. Der Ort hatte zwar sogar eine Webseite am Internet, auf der jedoch unter der Rubrik Latest News & Events lakonisch „none found“ stand.
Und das seit Jahren unverändert.
Zwei kleine Bed & Breakfast, die sich etwas hochtrabend „Landhotels“ nannten, teilten sich die Zahl der Durchreisenden, die meist wegen der unverfälschten Natur und der wilden Landschaft in das schottische Hochland kamen. Ben Nevis, der höchste Berg Schottlands, lag nicht weit entfernt, und so zog der als einsam und menschenfeindlich bekannte Landstrich jedes Jahr ein paar stadtmüde Erholungssuchende mehr an.
Doch alles mit Maß und Ziel: Die Landesstraße A830, an der Glenfinnan lag, war im Norden eine Sackgasse. Dreißig Kilometer weiter, nachdem sie sich durch Orte wie Druimindarroch, Lochailort oder Portnaluchaig gewunden hatte, stürzte sie sich bei Mallaig erschöpft in den Atlantik.
Der Mann auf der Bank musste bei dem Gedanken grinsen und leerte genüsslich seinen Becher mit Orange Pekoe Tea. Das dunkelgraue Haus, an dessen Steinwand er saß, machte den Eindruck, als ziehe es sich das moosbedeckte Dach wie eine schützende Mütze über den Kopf. Das verfallene Anwesen, Slatach House, zu dem es früher gehört hatte, lag nur einen Steinwurf entfernt. Manchmal verirrte sich ein Wanderer hierher, angelockt durch die Ruinen des alten Herrenhauses, aus denen die Bäume und Sträucher wuchsen. Meist kamen aber nur Schafe vorbei, die wieder einmal durch ein Loch im Zaun entkommen waren, auf der Suche nach noch saftigeren Gräsern.
Das alles war Major Llewellyn Thomas, dem neu zugezogenen, nur Recht. Noch verspürte er nicht das geringste Heimweh nach seiner Wohnung im Herzen Londons, vermisste nicht eine Sekunde lang seinem ehemaligen Chef Peter Compton, den alten Fuchs mit seinen Geheimdienst-Intrigen, seinem weltweiten Netzwerk und seiner ständigen Sorge um das Britische Empire.
Ein Motor brummte auf der schmalen Zufahrtsstraße und riss Llewellyn aus seinen Gedanken. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem kleinen gelben Bus zu, auf dem riesige rote Lettern für „Sexy Kilt Country Tours“ Werbung machten. Andrew, Fremdenführer, Busfahrer und Postbote in Personalunion, betrieb nebenbei ein kleines Ausflugsunternehmen für Touristen zu den nahegelegenen Whisky-Brennereien und den schönsten Aussichtspunkten auf der Stecke.
Was es allerdings mit dem Sexy Kilt auf sich hatte, das hatte Llewellyn in den vergangenen Wochen nicht herausfinden können. Andrew selbst trug meist Cordhosen und Pullover.
 Der junge Mann bremste den betagten Bedford-Bus genau vor Llewellyns Bank ab und die Türen öffneten sich mit einem etwas erschöpft klingenden Zischen.
„Guten Morgen, Major!“, winkte Andrew gut aufgelegt und sein roter Haarschopf leuchtete frisch gewaschen. „Bin heute etwas früher dran, aber ich muss gleich eine große Gruppe nach Loch Eil und zur Ben Nevis Destillery bringen.“
„Groß?“, erkundigte sich Llewellyn stirnrunzelnd.
Andrew zuckte mit den Schultern, während er in dem Postsack neben seinem Fahrersitz kramte. „Na ja, acht Leute“, murmelte er fast entschuldigend. „Aber sie wollen meinen Bus bis heute Abend mieten. Abendessen in Mallaig, dann nehmen sie die Fähre nach Armadale.“
„Whisky-Tours?“, stieß Llewellyn nach und Andrew nickte grinsend.
„Sind die besten Gäste“, stellte der Postbote fest und fuhr sich durch den Schwall roter Haare. „Kommen hierher, lassen Geld da, trinken gern und singen danach noch lieber. Harmlos und vor allem: Keiner beschwert sich am Ende der Tour.“ Er lachte fröhlich und zog zwei Poststücke aus dem grauen Sack, dann sprang er aus dem Bus. „Heute habe ich nur den Guardian und ein Päckchen für Sie.“ Andrew reichte Llewellyn die Zeitung und ein etwas abgewetzt aussehendes, längliches Paket. „Keine Unterschrift. Ich muss weiter!“, verkündete er hektisch und bestieg wieder seinen Bus.
„Moment!“
Die Stimme des Majors ließ Andrew zusammenzucken.
„Das ist nicht für mich.“ Llewellyn hielt das Päckchen hoch und sah Andrew forschend an. „Ich heiße noch immer nicht Charles R. Parker und ich kenne auch niemanden, der so heißt!“
„Aber die Adresse stimmt!“, gab Andrew fast trotzig zurück.
Der Major warf einen zweiten Blick auf das kleine Paket. Tatsächlich stand da seine Adresse in Glenfinnan … Slatach House … Aber Parker?
„Vielleicht ist dieser Charles Parker umgezogen?“, gab Llewellyn zu bedenken. „Du kennst doch alle hier. Klingelt’s nicht bei dem Namen?“
Andrew schüttelte energisch den Kopf. „Nie gehört. Ich dachte, vielleicht kennen Sie ihn. Müsste vielleicht meinen Vater fragen?“
Der Major runzelte die Stirn und betrachtete das Päckchen eingehender. Kein Absender, eine ganze Reihe von Briefmarken mit dem Porträt Elisabeths, mehrere verwischte Stempel. Es sah aus, als sei das Paket irgendwann nass geworden. Doch da, unter der letzten Reihe von Marken, war einer der Stempel noch klar und deutlich auf das Packpapier gedrückt.
„Andrew?“ Die Stimme Llewellyns verriet nichts Gutes und der junge Mann seufzte.
„Ich muss jetzt wirklich weiter, Major“, wandte er ein. „Meine Gäste warten.“
„Dieses Paket wurde bereits am 18. Juni 1969 in Hongkong aufgegeben“, meinte Llewellyn und setzte lakonisch hinzu: „Mir war nicht klar, dass die Königliche Post soo langsam ist.“
„Unmöglich“, murmelte Andrew erstaunt und stieg prompt wieder aus. „Das gibt es nicht …“
Der Major streckte ihm das Paket entgegen. „Sieh selbst. siebenundvierzig Jahre lang unterwegs von Hongkong nach Schottland, verschollen in den Untiefen der Postämter Ihrer Majestät.“
Andrew betrachtete die Stempel, drehte und wendete das Paket, kratzte sich ratlos am Kopf und zuckte schließlich die Schultern.
„Hiermit zugestellt an die richtige Adresse“, schloss er pragmatisch den Fall und zwinkerte Llewellyn zu, bevor er es ihm wieder in die Hand drückte. „Werfen Sie es weg, wenn Sie es nicht haben wollen. Charles Parker gibt es hier offenbar nicht mehr und wenn es ihn je gegeben hat, dann ist er bereits lange tot und wird das Päckchen nicht mehr vermissen. Und jetzt muss ich wirklich los. Bis morgen!“
Damit sprang Andrew in seinen Bedford, startete den Motor und wendete. Die Türen schlossen sich zischend und der gelbe Bus schaukelte durch die Buschreihen davon in Richtung A830.
„So kann man postalische Zustellungsprobleme natürlich auch lösen“, murmelte Llewellyn, während er nachdenklich auf das Päckchen aus der Vergangenheit blickte.
Charles R. Parker …
Für einen Moment überlegte der Major, das in braunes, fleckiges Packpapier eingeschlagene Paket unberührt zu lassen, es auf den niedrigen Speicher unterm Dach zu legen und dort einfach zu vergessen. Der Sommer war bisher überraschend warm gewesen und der geborene Waliser Llewellyn gedachte, auch weiterhin die kürzeste, aber auch schönste Jahreszeit Englands in aller Ruhe auf der weißen Bank vor seinem Haus zu genießen.
Diesen Sommer Jahr einmal ohne Stress, ohne Abenteuer, ohne Schießereien, dafür aber mit viel Whisky und Tee, Zeitschriften und Büchern.
Llewellyn, nach unzähligen Einsätzen für den britischen Geheimdienst MI5 und MI6 seit einigen Jahren im Unruhestand, wie er es nannte, hatte für das Empire immer wieder in der Krisengebieten der Welt die Kastanien aus dem Feuer geholt.
Und sich dabei oft genug die Finger verbrannt.
Nach den gefährlichen Einsätzen mit seinem Freund, dem Piloten John Finch in den vergangenen Jahren in Südamerika, Asien und Europa, plante der Major für diesen Sommer vor allem eines – die Füße hochzulegen und wenn möglich bis September keine Telefonate aus London anzunehmen.
Vor allem nicht von Peter Compton.
Neugierig wog Llewellyn das Päckchen in seiner Hand. Es war überraschend schwer.
Aus Hongkong?
Sicher eine Sammlung von lackierten Essstäbchen, dachte Llewellyn grinsend und betrachtete die Verschnürung genauer. Sie hatte die Odyssee von siebenundvierzig Jahren unbeschadet überstanden. Die Enden der Schnüre waren auf der Rückseite des Päckchens auf das Packpapier gesiegelt, mit rotem Siegellack. Der Major kippte das Päckchen im Sonnenlicht etwas. Waren das chinesische Buchstaben auf dem Siegel? Oder eine Krone und zwei gekreuzte Säbel?
Das Siegel jedenfalls war unversehrt.
Kurzentschlossen griff Llewellyn in seine Hosentasche und holte ein Messer heraus, klappte es auf und durchtrennte die Schnur. Unter dem Packpapier kam eine unscheinbare, braune Kartonschachtel zum Vorschein. Unbeschriftet, ohne jede Verzierung. Wer immer Charles Parker 1969 etwas nach Glenfinnan in die schottische Einsamkeit geschickt hatte, er hatte es nicht als Geschenk verpackt.
Der Deckel der Schachtel ließ sich nur schwer abziehen. Es war, als hielte jemand von innen dagegen, als wolle die Zeit ihr Geheimnis hüten und nicht preisgeben. Dann, mit einem Mal, löste sich der Deckel. Was immer der unbekannte Sender an Parker verschickt hatte, es war zusätzlich in einigen Seiten einer chinesischen Zeitung eingepackt worden, die inzwischen vergilbt waren. Vorsichtig schlug Llewellyn sie zurück. Zum Vorschein kam ein seltsam geformtes Messer mit kurzem Ebenholzgriff, das in einer aufwändig verzierten Lederscheide steckte. Der Major erkannte es sofort. Es war ein Khukuri, die traditionelle Waffe der Nepalesen, ein schwerer Dolch, der seit dem 15.Jahrhundert fast unverändert gefertigt wurde.
Vorsichtig zog Llewellyn das Messer aus der Scheide.
Die Klinge war fast zur Gänze mit einer rostbraunen Substanz bedeckt. Der Major sah näher hin, strich vorsichtig mit dem Finger drüber. Zuerst dachte er, es handle sich um Rost.
Doch das war es nicht.
Es war getrocknetes Blut.

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