Doch dann wird der Gastgeber der elitären Party in den frühen Morgenstunden gefunden. Oder das, was von Gregory Winter noch übrig ist, nachdem er an den Heizkörper gefesselt, gefoltert und dann angezunden wurde. Nach wenigen Stunden wird klar - Michael Landorff und eine Pokerspielerin namens Alexandra Buschmann waren die einzigen, die weder den Gastgeber, noch irgendeinen der Party-People kannten. Und trotzdem einen Einladung im Briefkasten vorfanden... Wollte der Gastgeber sicherstellen, dass jemand unabhängig von der Polizei seinen Tod aufklärt? So macht sich Michael Landorff auf den Weg zur Mutter des Gastgebers, Maria Winter.
"Maria Winter sah besser aus als am Tag
zuvor. Sie war zwar noch immer etwas fahrig in ihren Bewegungen, als sie die
gute Kaffeekanne mit passenden Tassen aus der Vitrine holte, aber ihre Augen waren
wieder klar und weniger verweint.
„Nehmen
Sie ihn mit Milch und Zucker?“, fragte sie Landorff und ihre Stimme zitterte
ein wenig.
„Volles
Programm, bitte“, nickte er. „Haben Sie eigentlich gewusst, womit Ihr Sohn sein
Geld verdient?“
Der
Kopf der alten Dame wackelte etwas von links nach rechts, wie ein Pendel.
„Ach,
ich habe von diesen Dingen nicht viel Ahnung. Gregory hat einmal versucht, mir
das zu erklären, aber ich habe nach einigen Minuten nicht mehr zugehört.“ Sie
lächelte ein wenig. „Das können wir alten Menschen ganz gut. Ein
verständnisvolles Gesicht machen und an etwas ganz anderes denken.“
Unwillkürlich
fiel Landorff seine eigene Mutter ein. Wie wahr …
„Ihnen
ist aber schon klar, dass Ihr Sohn nach dem Verkauf seines Unternehmens ein
reicher Mann war“, meinte Landorff, schnupperte am Kaffee und setzte hinzu:
„Der riecht köstlich!“
„Ein
guter Bohnenkaffee, etwas Kakao, Malzkaffee, eine Prise Salz und entkalktes
Wasser“, dozierte Mutter Winter stolz und ihre Augen leuchteten kurz. „Ich habe
mir nie viel aus Geld gemacht, wissen Sie? Mein Mann, Gregorys Vater, ist früh
gestorben und hat uns eine Rente und ein wenig Anlagevermögen hinterlassen. Ich
habe halbtags gearbeitet und wir hatten nie große Ansprüche. Mein Sohn zog mit
achtzehn von zu Hause aus und hat danach nie mehr etwas von mir angenommen.“
Sie
blickte irgendwie verloren aus dem Fenster, durch das man ein Stück blauen Himmel
sah, über den sich weiße Schäfchenwolken schoben.
„Wir
reden hier über einige Hundert Millionen Euro, manche sprechen sogar von einer
Milliarde“, versuchte Landorff zu erklären.
„Das
ist so unvorstellbar für mich, dass ich gar nicht darüber nachdenken will“,
meinte Maria Winter kategorisch und schob ihm einen Teller mit Keksen zu. „Greifen
Sie zu, die hatte Gregory auch immer so gern ...“ Ihre Stimme versiegte
und sie schluchzte, holte ein Taschentuch hervor und hielt es sich vors
Gesicht.
„War
die Polizei nochmals bei Ihnen?“, wollte Landorff wissen. „Dieser Kroning?“
Sie
schüttelte den Kopf, schluchzte noch ein bisschen und schniefte dann. „Nein, er
hat mir seine Visitenkarte dagelassen, das war alles.“
„Wie gut können Sie mit Ihrer
Enkelin, mit Shaneya?“
Ihr Gesichtsausdruck sagte alles.
„Die Enttäuschung meines Lebens. Ich weiß nicht, woran es liegt … Vielleicht
fehlt dem Mädchen die Mutter und Gregory ist auch nicht oft zu Hause. Nicht oft
genug, so scheint es. Shaneya ist weder nach ihrer Mutter noch nach ihrem Vater
gekommen. Eher haben ihr die verschiedenen Kindermädchen Flausen in den Kopf
gesetzt.“
Landorff hielt das für sehr vornehm
ausgedrückt für ein Gör, das über jedes männliche Wesen herfiel, das nicht bei drei
auf dem Baum war.
„Aber es sieht so aus, als hätte sie
ihr Vater auch sehr verwöhnt“, gab er zu bedenken. „Welches Mädchen bekommt
schon einen Sportwagen zum 18. Geburtstag und läuft in teuren Designerklamotten
zum Einkaufen?“
„Ich denke, mein Sohn wollte damit
einiges wiedergutmachen, was er in den Jahren zuvor falsch gemacht hat.“ Sie
lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Den Tod von Andrea hat er nie ganz überwunden,
auch wenn er es nicht zugeben konnte. Sie war ein feiner Mensch, obwohl wir
nicht immer einer Meinung waren.“
„Gab es außer Andrea eine andere Frau
im Leben Ihres Sohnes? Hat er Ihnen jemals davon erzählt.“
Maria Winter schüttelte stumm den
Kopf. Sie knetet das Taschentuch in ihrer Hand und Landorff sah ihr an, wie
schwer es ihr fiel, nicht die Fassung zu verlieren. „Da gab es niemanden. Er
hat immer so viel gearbeitet, auch an den Wochenenden, war viel auf Reisen. In
seinem Leben hatten Frauen keinen Platz.“
„Oder er räumte ihnen keinen ein“, gab
Landorff zu bedenken.
„Ja, das kann schon sein …“,
meinte sie leise und bedächtig. „Oder so.“
Für einige Minuten hingen beide ihren
Gedanken nach.
„Was haben Sie eigentlich mit dem Tod
meines Sohns zu tun?“, fragte Maria Winter unvermittelt. „Ich meine, warum
interessieren Sie sich so für sein Leben?“
„Weil ich herausfinden will, wer es
getan hat“, befolgte Landorff eine seiner ältesten Regeln: Wenn möglich so nahe
an der Wahrheit bleiben, wie es nur geht. „Ich war Gast bei der Party, die
vorgestern Abend von Ihrem Sohn organisiert wurde. Allerdings weiß ich nicht so
genau, wie ich zu der Ehre gekommen bin. In meinem Postkasten lag eines Tages
die Einladung.“ Er zog etwas ratlos die Schultern hoch. „Vorher habe ich Ihren
Sohn nie getroffen. Zwar ein paar Artikel über ihn gelesen, ihn aber niemals persönlich
kennengelernt. Also weiß ich nicht, wieso er ausgerechnet auf mich kam.“
„Nun, glauben Sie mir, mein Sohn tat
niemals etwas grundlos“, stellte Maria Winter entschieden fest. „Das wäre gegen
seine Überzeugung gewesen. Wenn jemand rational und durch und durch logisch dachte,
dann war es Gregory. Vielleicht hat er deshalb nach Andrea keine Frau mehr
gefunden.“
Das verwirrte Landorff, der sich
bereits seit Tagen sein Hirn zermarterte, um Anknüpfungspunkt zum Leben von Gregory
Winter zu finden.
Vergebens.
„Ich möchte Sie nicht einfach so
hinauswerfen, aber ich muss mich um die Beerdigung meines Sohns kümmern“, sagte
sie unvermittelt und ihre Finger verschränken sich so fest ineinander, dass
ihre Knöchel weiß hervortraten.
„Nein, nein, das verstehe ich schon, verzeihen
Sie bitte, dass ich so lange gestört habe“, beruhigte Landorff sie. „Allerdings
wird es sicher noch einige Zeit dauern, bis die Untersuchungen abgeschlossen
sind und die Leiche Ihres Sohnes freigegeben wird.“
Sie sah ihn mit einem seltsam kalten
Blick an. „Das weiß ich auch, aber was soll ich denn sonst machen?“
Da er darauf auch keine Antwort wusste,
bedankte er sich für den Kaffee, verabschiedete sich und lief die Treppen
hinunter.
Als
er auf die Straße trat, erwartete er irgendwie, die Brünette zu treffen, die ihn
ein Loch in den Bauch fragen würde. Doch da war niemand. In der warmen
Nachmittagsluft schwirrten Dutzende Mauersegler zwischen den Häusern, Menschen
hasteten vorbei, ohne ihn zu beachten. Selbst das Sushi-Lokal hatte bereits geschlossen
und drohte damit, erst wieder abends seine Tore zu öffnen.
Landorff trabte los. In Gedanken ließ
er das Gespräch nochmals Revue passieren, versuchte es in einen Zusammenhang
mit den anderen Fakten zu bringen.
Und scheiterte.
Da war etwas, das im Hintergrund
blieb, sich versteckte, wie unter einem Tarnmäntelchen, und sich ins Fäustchen
lachte.
Und Landorff hatte keine Ahnung, was
es war.
Auf dem Weg zurück zur Parkgarage gingen
ihm der junge Kevin Zahlmann und dessen Tod nicht aus dem Sinn. Einbetoniert
und die Zunge herausgeschnitten … ein wenig viel an Klischee. Davon war
selbst die sizilianische Mafia inzwischen wieder abgekommen.
Wer wollte damit wem etwas mitteilen?
Spätestens wenn die ersten Reporter am Tatort die Fakten sammeln würden, gab es
kein Halten mehr. Die grauenhaften Details würden genüsslich in sämtlichen
Blättern breitgetreten werden. Und so in Windeseile den skurrilen Tod
deutschlandweit bekannt machen.
War genau das geplant?
Oder hatte der junge Zahlmann
tatsächlich etwas gesehen, das er nicht hätte sehen sollen?
Aber dann hätte es ein einfacher Schuss
auch getan und keine aufwendige Aktion auf einer Baustelle mit dem Risiko,
dabei überrascht zu werden.
Ratlos zog Landorff während des
Gehens die Gästeliste aus seiner Tasche und überflog sie. Melissa hatte recht.
Er kannte niemanden aus der Münchner Schickeria. Natürlich hatte er hie und da
ein paar Namen in den Gesellschaftskolumnen aufgeschnappt, aber es fehlten ihm die
Gesichter dazu. Es war nicht seine Welt. Dann kam ihm eine Idee: Ich sollte
mich auf jene konzentrieren, die Melissa nicht kennt, dachte er. Denn genau die
könnten interessant sein.
Also zog er sein Handy aus der Tasche
und wählte erneut die Nummer seiner Agentin.
„Hast du schon wieder einen Auftrag
für eine Undercover-Aktion für mich?“, begrüßte sie ihn diesmal leicht verstimmt.
„Kommt noch, nur nicht ungeduldig
werden“, gab Landorff zurück. „Ich hab dir vor einigen Minuten die Seiten der
Gästeliste von Winters Party zugemailt. Kannst du mal die Namen überfliegen und
mir sagen, wen du nicht kennst?“
„Ist das jetzt ein Scherz oder bist
du betrunken?“, erkundigte sich Melissa mit der ihr eigenen Direktheit. „Ich
wette, ich kenne alle auf der Liste. Ich kenne ja sogar dich …“
„Herzlichen Dank, du tust mir soo gut“,
knurrte Landorff, während zwei spielende Kinder in der Fußgängerzone versuchten,
ihn mit Mini-Fahrrädern in die Enge zu treiben. „Kannst du trotzdem rasch
drüberschauen?“
Melissa seufzte theatralisch. „Also
gut, für dich. Ich hab ja sonst nichts zu tun. Wirfst du auch ab und zu einen
Blick in deinen Online-Kalender? Vergiss den Termin am Freitag nicht.“
„Jaja, ich weiß, der irische Abend
mit dem Bürgermeister.“ Landorff räusperte sich. Der wäre ihm glatt entfallen.
Er hatte in der Zwischenzeit schon wieder vergessen, wie er überhaupt an diesen
verdammten Kalender kommen sollte. Doch da konnte Petra, die Profil-Fälscherin,
sicher helfen. Instinktiv kramte er in seinen Taschen nach ihrer Visitenkarte.
„Und? Was sagt die Society-Expertin?“
„Wie ich es mir dachte“, murmelt
Melissa vor sich hin, „kein einziger Unbekannter in der Liste. Alles die
üblichen Verdächtigen.“
Naja, dachte Landorff, den Versuch war
es wert gewesen …
„Warte mal, da ist jemand, von dem
ich tatsächlich noch nie etwas gehört habe.“ Melissa klang fast ein wenig
aufgeregt. „Alexandra D. Buschmann. Der Name sagt mir gar nichts. Ist aber auch
der einzige“, setzte sie nach einem Augenblick entschuldigend hinzu.
„Danke, das war auch schon alles für
den Moment“, gab Landorff zurück, legte rasch auf und verhinderte damit eine Diskussion
über seine nächsten Termine.
Also Alexandra Buschmann und Michael
Landorff. Zwei Leute, die nicht ins Konzept passten. Schnell hatte er den
Eintrag auf der Liste gefunden: „Alexandra B. Buschmann, Bodenkirchen.“ Na gut,
nicht gerade der Nabel der Welt. Er überlegte kurz. Das war im Nirgendwo, gleich
neben Vilsbiburg oder Velden, da drüben an der Grenze zu Niederbayern.
Google Maps wusste es genauer.
Bodenkirchen lag eine gute Stunde Fahrt von der Münchner Stadtgrenze entfernt in
Richtung Osten. Für Münchner tiefste Provinz.
Eine rasche Personensuche zum Namen
Buschmann brachte wenig Details, aber dafür zumindest eine Telefonnummer.
„Buschmann?“, meldete sich auch
prompt eine angenehme Stimme, die unternehmungslustig und gut aufgelegt klang.
Nach einem kurzen internen Kampf
entschied sich Landorff für seinen wahren Namen. Petra hin oder her.
„Mein Name ist Michael Landorff und
es tut mir leid, falls ich Sie stören sollte. Wir waren beide auf der Party von
Gregory Winter vor zwei Tagen eingeladen und haben laut meiner Agentin eines
gemeinsam – wir passen nicht zum Rest der Truppe.“
Andrea Buschmann lachte ein
ansteckendes Lachen. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, gestand sie
unumwunden. „Sie haben eine Agentin? Wie interessant. Im Sinne von geheim oder
so …?“
„Ach was, im Sinne von Literatur“,
beschwichtigte Landorff sie und begann zu erzählen. Von der Einladung in seinem
Briefkasten, von Gregory Winter und seinem heißen Ableben, von dem bis zum Hals
in Beton steckenden Zahlmann Junior und der Gästeliste als ein Who is Who der
Münchner oberen Zweihundert. „Auf der nur wir beide eine Ausnahme bilden ...“
„Unglaublich“, meinte sie nach einem
kurzen Augenblick. „Ich habe die Einladung – wie Sie ebenfalls – an meine
Heimadresse zugestellt bekommen, ich glaube von einer dieser Post-Alternativen,
die es heute gibt. Bin da aber nicht mehr so sicher, was das betrifft. Zu Winters
Party bin ich dann gegangen, weil ich neugierig war und an dem Abend keinen
Termin hatte. Und ganz ehrlich: Bis auf eine Handvoll Leute habe ich überhaupt niemanden
erkannt. Und auch die waren mir nur vom Lokalfernsehen oder aus der Zeitung ein
Begriff. Aber andererseits, das Essen war gut und der Wein sensationell …“
Sie lachte wieder und es machte sie auf Anhieb sympathisch.
„Ich bin Autor und Journalist“, stellte
Landorff fest, „und das Buffet war in der Tat ausgezeichnet. Touché. Ich habe mich zwar mehr an den
Whisky gehalten, aber sonst ging es mir wie Ihnen. Ich habe keine Ahnung, warum
Winter mich eingeladen hat. Ich habe ihn vorher jedenfalls nie getroffen. Was
treiben Sie so, wenn Sie nicht bei der Schicki-Micki-Truppe eingeladen sind und
helfen, Zahlmann-Buffets zu leeren?“
„Ich verdiene meinen Lebensunterhalt meist
Nachts“, antwortete sie und lachte kehlig. „Ich bin professionelle Pokerspielerin.“"