Samstag, 23. Juli 2016

Zweite Leseprobe - "Der Nostradamus Coup"



13. Juli 1781, Abtei Cambron, österreichisch-habsburgisches Flandern

 



Die Kutsche mit den beiden adeligen Reisenden rollte über gepflegte Kieswege, entlang einer parkähnlichen Gartenanlage, an deren Ende man einen riesigen, aufgestauten Teich mit künstlichen Inseln und Rosenrabatten an seinen Ufern erkennen konnte. Die Alleen, gepflegt und von Blumenbeeten unterbrochen, liefen auf ein imposantes Einfahrtstor zu, das sogar einem fürstlichen Schloss zur Ehre gereicht hätte.

Die Abtei selbst, auf einer Anhöhe am Ende einer majestätischen und beeindruckend langen Freitreppe gelegen, zeugte vom Reichtum und der Macht der Zisterzienser. Hinter der Treppe erhob sich ein mehr als sechzig Meter hoher Turm zwischen den ausgedehnten Bauten.

„Der Leuchtturm des heiligen Bernhard!“ De Ligne lächelte.

Graf Falkenstein hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt und war vom Glanz und der Eleganz der Anlage sichtbar überrascht. „Ich habe selten ein so … prächtiges Kloster gesehen“, gestand er seinem Begleiter, nach Worten suchend, während die Kutsche das hohe Tor im klassischen Stil, mit Säulen und Heiligennischen, passierte. „Alles sieht so … neu aus.“

„Das kann Eure Exzellenz kaum verwundern, wenn man bedenkt, dass die letzten Bauarbeiten vor kaum zehn Jahren beendet wurden“, gab de Ligne zu bedenken, bevor er sich wieder seinen Reisenotizen zuwandte. „Und das Wort, das Eure Exzellenz gesucht haben, lautet wohl – opulent.“

„Wie Recht Er hat“, murmelte Falkenstein, „wie Recht Er hat. Opulent.“

Die Kutsche rollte an den Wirtschaftsgebäuden vorbei und hielt auf den Eingang der Abtei zu.

„Hat Er uns angemeldet?“, wollte Falkenstein wissen.

„Ich habe heute Morgen einen Boten gesandt“, antwortete de Ligne. „Man sollte uns also erwarten.“

Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Doppelflügeltür, und ein massiger, großgewachsener Mönch trat auf den Vorplatz. Seine wachen Augen schauten den Neuankömmlingen in der Kutsche ein wenig besorgt entgegen. Während er sich mit der Hand über seinen grauen Haarkranz strich, der eine spiegelnde Glatze umrahmte, flatterten die graue Tunika und das schwarze Skapulier im Sommerwind. Hinter ihm erschienen nach und nach rund ein Dutzend Mönche, die etwas zögerlich Aufstellung links und rechts des Portals nahmen.

„Seht, der Abt erwartet uns bereits.“ De Ligne selbst wartete nicht ab, bis einer der Diener den Schlag der Kutsche geöffnet hatte. Er sprang aus der noch rollenden Kutsche und eilte geradewegs auf den Abt zu, um ihm die Hand zu schütteln.

„Durchlaucht, es ist uns eine große Ehre, Sie in unserer Abtei willkommen zu heißen …“ Es war nicht der Abt, sondern sein Stellvertreter Florent Pépin, der die beiden Reisenden empfing. Seine Stimme war voll und tief und verriet Selbstsicherheit. Er verneigte sich und entschuldigte Abt Malachie Hocquart, der schwer krank darniederlag. Dann schaute über de Lignes Schulter und fragte: „Wer begleitet Euch auf Eurer heutigen Reise? Ist …?“ Pépin  verstummte überrascht, als Graf Falkenstein aus der Kutsche stieg und sich kurz umsah, bevor er auf die Gruppe von Mönchen zuschritt. „Mein Gott, es ist …“ Der Stellvertreter des Abts sank in die Knie und konnte seine Augen nicht von Falkenstein abwenden. „Majestät, welche Ehre …“



Die Mönche standen erst erstarrt, dann taten sie es ihm gleich, knieten nieder und senkten die Köpfe.

De Ligne hingegen lächelte seinem Reisebegleiter zu. „Ihr seid einfach zu bekannt, Majestät. Euer Inkognito ist dünn wie Seidenpapier. Da nützt keine Verkleidung und kein staubiger Mantel.“

Josef II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, König von Böhmen, Kroatien und Ungarn, Herrscher über halb Europa, nickte nachdenklich und bedeutete den Mönchen, sich zu erheben.

„Wahrscheinlich habt Ihr Recht, mein Freund“, meinte er an Fürst de Ligne gewandt. „Die Zeit der unbeschwerten Reisen geht zu Ende. Man erkennt mich ja schon überall. Selbst in abgelegenen wallonischen Zisterzienser-Klöstern …“

„Vor allem in Klöstern und Abteien“, ergänzte de Ligne ironisch. „Da kennt und fürchtet man Euch.“

Der Kaiser winkte ab. Als in diesem Moment ihm zu Ehren die Glocken der Klosterkirche zu läuten begannen, verzog er das Gesicht. „Die Glocken sind die Artillerie der Geistlichkeit. Damit schießen sie uns in Grund und Boden.“   

 Eine Stunde später, nach einer ausgedehnten Führung durch Park und Abtei, hatte Pépin seine illustren Gäste zu einem rasch improvisierten Mahl eingeladen, für dessen Einfachheit er sich immer wieder aus Neue entschuldigte. Selbst als de Ligne den Wein, das Bier und die ausgezeichnete Wildpastete lobte, sagte der Mönch: „Wenn ich gewusst hätte, dass Majestät uns die Ehre geben, dann wäre ich … hätte ich …“

Joseph II. unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. „Haben sich die Zisterzienser nicht einer einfache Lebensweise verschrieben? Nun, dieses Mahl hätte auch am Hof in Wien jedermann zufrieden stellen können. Und ich bin an diesem heißen Tag nicht wegen der Völlerei nach Cambron gekommen. Fürst de Ligne deutete an, Ihr würdet mir von einer ganz besonderen Geschichte berichten, die sich im vierzehnten Jahrhundert hier abgespielt hat.“

Pépin nickte eifrig und erhob sich. „Nur zu gerne, Majestät. Wenn Ihr mich begleiten würdet?“

Joseph II. stand auf und bedeutete de Ligne, hier zu warten, was sich der Fürst angesichts der Köstlichkeiten auf der langen Tafel nicht zweimal sagen ließ. Dann folgte er dem Stellvertreter des Abts.

„Was soll das?“, fragte der Kaiser wenig später irritiert, als er neben Pépin vor einem der eindrucksvollen, ausladenden und reich verzierten Beichtstühle in der Klosterkirche stand.

„Nun, Majestät, wie Ihr wisst, sitze ich normalerweise in der Mitte und die bußwilligen Sünder in den Seitenflügeln“, erklärte Pépin leise. „Sie beichten ihre Sünden, ich erteile ihnen Absolution und erlege ihnen eine Buße auf.“ Er schaute auf den Kaiser hinunter, der einen guten Kopf kleiner war, als er. „Diesmal ist es umgekehrt. Seid Ihr nicht Kaiser von Gottes Gnaden? Seid Ihr es nicht, der auf eine Rückbesinnung auf den katholischen Glauben und damit auf einen religiös begründeten Zusammenhalt des Staates abzielt? Unterstehen wir unsererseits nicht Eurer Gnade und Eurem Wohlwollen? Nun, dann ist Euer Platz diesmal in der Mitte des Beichtstuhls, während ich den harten Sitz des armen Sünders einnehmen werde. Denn glaubt mir eines, Majestät, der Beichtstuhl ist er einzig richtige Platz für die Einzelheiten dieser Geschichte, die Ihr von mir fordert. Danach sollt Ihr darüber entscheiden, was mit meiner Beichte geschieht. Die Verantwortung liegt dann bei Euch.“

Damit ließ er Joseph II. stehen und ging mit raschen Schritten zur rechten Seite des Beichtstuhls, zog die hölzerne Tür auf und verschwand im Inneren.

Der Kaiser blieb zurück, verwirrt und für einen Moment unschlüssig. Doch dann siegte seine Neugier und er folgte Pépin in den Beichtstuhl.  

Mehr als eine halbe Stunde war vergangen, als Joseph II. bleich und angespannt wieder ins Kirchenschiff trat.

Pépin kniete bereits im Mittelgang, tief versunken im Gebet. Es roch nach Weihrauch und erloschenen Kerzen.

Der Kaiser überlegte für einen Moment, zu ihm zu gehen, weiter nachzufragen, doch dann drehte er sich abrupt um und verließ die Klosterkirche. Er hatte genug gehört, ja, bereits zu viel.

Wie in Trance ging er zur Kutsche, stieg ein und schickte einen der Diener nach de Ligne. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken rasten, und er fragte sich zum hundertsten Mal, ob das möglich sei, was Pépin ihm geschildert hatte. An den Schritten, die sich der Kutsche näherten, erkannte er den Fürsten, und er öffnete die Augen wieder. Da fiel sein Blick auf ein kleines Päckchen, das wohl einer der Mönche auf der Sitzbank gegenüber deponiert hatte.

„Geht es Euch gut, Exzellenz?“, hörte er de Ligne besorgt fragen und nickte nur, wog den Umschlag in seiner Hand, zögerte hinein zu sehen.

„Was habt Ihr da?“, erkundigte sich der Fürst weiter und beugte sich neugierig vor. „Eine Wegzehrung für die Reise zurück auf mein Schloss? Ich für meinen Teil brauche heute nichts mehr zu essen …“

Stumm riss Joseph II. den Umschlag auf. Darunter kam ein altes, in rötliches Leder gebundenes Büchlein zum Vorschein, und der Kaiser wusste mit einem Mal, was es war.

„Hat die Abtei Euch etwa …?“, setzte de Ligne mit großen Augen an, aber der Kaiser wehrte ab.

„Fahren wir!“, entschied er und nahm das Buch in beide Hände. „Ich muss zurück nach Wien. Wenn Nostradamus gewusst hätte, was er in Händen hielt, dann hätte er es niemals veröffentlicht. Ganz im Gegenteil.“  

 

*

 

Pépin und die Mönche blickten der Kutsche lange hinterher. In einer Staubwolke, die in der späten Sommersonne golden glänzte, wurde sie immer kleiner und verschwand schließlich am Ende der Allee.

„Gott allein weiß, ob ich der Abtei, unserem Orden und dem Andenken Bernard de Clairvaux heute ein gutes Werk getan habe“, sagte Pépin nachdenklich. „Vielleicht gibt es auf dieser Welt Geheimnisse, die besser im Verborgenen bleiben sollten.“  

 

*

 

Die Befürchtungen des Abtes bewahrheiteten sich rasch. Zwei Jahre nach seinem Besuch reihte Joseph II. die Abtei Cambron in die Kategorie der „unnützen Klöster und Abteien“ ein und beschloss deren Aufhebung.



Am Vormittag des 26. Mai 1789 traf eine Delegation berittener Soldaten ein, die sämtliche Bilder, Dokumente, Handschriften, Inkunabeln und Akten aus dem Kloster einsammelten, in Kisten verpackten und auf einen vierspännigen Wagen verluden, der ohne Umwege, aber unter schwerer militärischer Bewachung nach Wien zurückkehrte.

Einen Tag später wurden die Mönche verjagt, die Abtei blieb menschenleer zurück.

Einige Wochen später waren die zurückgelassenen Bücher der Bibliothek bereits in alle Winde zerstreut.

Einige Monate später war der Großteil der verbliebenen Möbel gestohlen, verschwunden in nahe gelegenen Bauernhöfen, den Wohnungen und Häusern des Landadels oder von Händlern verschachert.

Einige Jahre später wurden die noch verbliebenen Gebäude verkauft und von den jeweiligen Besitzern nach und nach demoliert.

Joseph II. hatte sein Ziel erreicht. Cambron war nur noch ein Schatten seiner selbst, die Erinnerungen an die Verse des Yves de Lessines getilgt.

Der Kaiser hatte die späte Schlacht gegen den Heiligen Bernhard gewonnen.

Doch genießen konnte er seinen Sieg nicht mehr. Er starb im Februar 1790 an Tuberkulose.

Nur wenige trauerten um ihn.

        Das Buch mit den Versen von Yves de Lessines, das Pépin dem Kaiser zun Geschenk gemacht hatte, war spurlos verschwunden.

Dienstag, 31. Mai 2016

Erste Leseprobe aus "Der Nostradamus Coup"



Prolog

 

 

13. Juli 1781, Straße nach Cambron, österreichisch-habsburgisches Flandern

 

 

„Halt er hier an!“ Graf Joseph von Falkenstein, den man in eingeweihten französischen Kreisen auch den „illustren Reisenden“ nannte, beugte sich vor und klopfte energisch gegen die tapezierte Holzwand der Kutsche. „Wir machen eine kurze Pause im Wald.“

Während die Kutsche langsamer wurde und Falkenstein sich den Schweiß von der Stirne wischte, sah er seinen Mitreisenden, Fürst Charles de Ligne, aus den Augenwinkeln an. De Ligne sah beneidenswert frisch aus … Die Kleidung makellos, selbst auf dem Gesicht des Fürsten war kein Schweißtropfen zu sehen.

Vielleicht wäre es doch besser gewesen, in dessen nahe gelegenem Schloss Belœil bis zum Abend abzuwarten und sich erst dann auf den Weg zu machen, dachte Falkenstein. Selbst nach der kurzen Fahrt war es heiß in der Kutsche, unerträglich heiß, und der warme Sommerwind, der durch die offenen Fenster strich, hatte in der vergangenen Stunde kaum Linderung gebracht.

De Ligne erwiderte Falkensteins Blick unbewegt und nickte dann etwas gedankenverloren, erneut vertieft in seine Reisenotizen. „Ja, in der Tat, ein guter Einfall, bevor wir im eigenen Saft sieden …“

Der hochgewachsene Fürst mit seiner ungebändigten, grauen Mähne galt nicht nur als ausgezeichneter Militärexperte und einfallsreicher Diplomat, sondern wurde von vielen als geistvoller und aufgeklärter Denker, Essayist und Biograf geschätzt. Für Falkenstein, der ausgedehnte Reisen durch Europa unternahm, war er der ideale Reisegefährte, der ihn leider viel zu selten begleitete. Der Fürst stand in regem Gedankenaustausch mit den geistigen Größen seiner Zeit, wie etwa Voltaire, Rousseau oder Goethe, war europaweit mit einflussreichen Männern von Kirche und Staat befreundet und aufgrund seiner Intelligenz, seines elegant-gewandten Auftretens und seiner manchmal spitzen Zunge in den höchsten Kreisen sehr beliebt.

Als die Tür aufschwang und einer der Diener den Schemel unter den Ausstieg stellte, drang erfrischend kühle Waldluft ins Innere der Kutsche, und Falkenstein atmete auf.

„Ich habe uns einen Korb mit kühlen Getränken einpacken lassen.“ De Ligne lächelte wissend und steckte seinen Notizblock ein. „Champagner aus Epernay, einen jungen Rosé aus dem Elsass und kaltes Wasser aus der Schlossquelle. In dieser Reihenfolge, Exzellenz?“

„Beginnen wir einfach mit dem Wasser“, erwiderte Falkenstein und atmete auf, als er den moosigen, kühlen Boden unter seinen Sohlen spürte. Zwei Bedienstete wollten eine schwere Decke darauf ausbreiten, aber der Graf winkte ab. „Es wird nur eine kurze Rast“, meinte er, „wir haben noch ein ordentliches Stück Weg vor uns.“

Sofort trat ein weiterer Diener mit Tablett, Karaffe und Gläsern vor, doch der Fürst kam ihm zuvor.

„Darf ich Euch einschenken?“, erkundigte sich de Ligne und ergriff die beschlagene Kristallflasche.

„Nur zu“, Falkenstein nickte, „schließlich seid Ihr es, der mich durch diesen unglaublich heißen wallonischen Sommer treibt. Und mir dabei Geheimnisse vor die Nase haltet wie eine Möhre dem störrischen Esel.“ Dankbar ergriff er das dargebotene Glas mit Wasser, leerte es in einem einzigen Zug. „Aah, das war gut! Wollt Ihr Euch nicht ein wenig mehr erklären? Dies wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, mein Freund.“

De Ligne blickte sich vorsichtig um, nachdem er sein Glas auf das Tablett zurückgestellt hatte. „Kommt, gehen wir ein wenig spazieren“, meinte er schließlich nach einem Augenblick des Nachdenkens und wies auf einen ebenen Weg, der sich durch die Bäume ins dunkelgrüne Unterholz schlängelte.

Falkenstein sah sich etwas ratlos um. „Aber warum? Hier sind nur Eure Diener und sonst weit und breit niemand.“

„Manchmal hat sogar der Wald Ohren …“, antwortet de Ligne, verschränkte die Hände hinter seinem breiten Rücken und ging ohne weitere Bemerkung los.

Falkenstein sah ihm kurz nach, zuckte mit den Schultern und schloss sich schließlich dem als geistreichen Kosmopoliten bekannten Fürsten an. Seine Neugier hatte erneut über seine Bequemlichkeit gesiegt.

Und der kühle Wald war verlockend.

„Was sagt Euch der Name ‚Cambron‘?“, begann de Ligne leise, als Falkenstein zu ihm aufgeschlossen hatte.

„Klingt wie eine Ortschaft“, erwiderte der Graf nachdenklich. „Sollte es sich etwa um das Ziel unserer heutigen Fahrt handeln?“

Der Fürst nickte und verjagte mit der Hand einige Fliegen, die summend um seinen Kopf schwirrten. „Genauer gesagt handelt es sich um den Namen eines Klosters, das ursprünglich als Abtei ‚Notre Dame de Cambron‘ bekannt geworden war. Von den Zisterziensern im Jahr 1148 gegründet.“

Falkenstein sah ihn erstaunt an. „Ihr kennt mich nun schon so lange und wollt mich in ein Kloster führen? Alte Mauern, in denen unnütze und untätige Mönche ihre Gebete herunterleiern?“

De Ligne lächelte verschmitzt. „Vergebt mir, Exzellenz, aber Ihr werdet gleich verstehen. Cambron ist … anders, war von Beginn an etwas Besonderes. Zwölf Mönche erschienen hier in der Gegend mit einem Mal im Jahr 1148, direkt vom Kloster Clairvaux und seinem berühmten Abt, dem Heiligen Bernhard, gesandt.“

„Bernard de Clairvaux?“

„Genau, der berühmte Bernard de Clairvaux. Vehementer Unterstützer der Kreuzzüge, erbitterter Gegner der Katharer, Teilnehmer am berühmten Konzil von Troyes 1129. Unter seiner Ägide gelang es Bernard, die Statuten des Templerordens, an deren Erstellung er maßgeblich beteiligt war, vom Konzil und damit von der Kirche anerkennen zu lassen. ‚Der Orden der bewaffneten Mönche‘, wie einige die Templer bezeichneten, dessen Aufgabe im Schwingen des Schwertes und im Vergießen von heidnischem Blut bestand. Dieser Orden war damit institutionalisiert, anerkannt von Kirche und Papst. Eines der Gründungsmitglieder, André de Montbard, war übrigens der Onkel des Heiligen Bernhard.“

Falkenstein schwieg und ging nachdenklich neben de Ligne her.

„Damit war der Begriff ‚Heiliger Krieg‘ zum ersten Mal, aber für immer in der offiziellen Begriffswelt der katholischen Kirche eingeführt, wenn ich Euch daran erinnern darf.“ Der Fürst blieb stehen und sah sein Gegenüber durchdringend an. „1130 ist es Bernard, der in einem Brief an die Templer erklärt, sie hätten disziplinierte Gotteskrieger zu sein, die zwar den Tod bringen würden, ohne jedoch Hass und Stolz zu zeigen. Er war es auch, der der katholischen Kirche 1145 einen neuen Papst gab, Eugen III., seinen eigenen Schüler, dessen wichtigster Berater er auch blieb. Er hatte also sowohl den obersten Hirten der Kirche inthronisiert, als auch dessen bewaffnete Truppe aufgestellt. Auf seinem Weg durch den Süden Frankreichs im selben Jahr, einer bekannten Hochburg der Katharer, meinte er nur lakonisch: ‚Ergreift sie und haltet nicht inne, bevor sie nicht alle vernichtet sind, denn sie haben bewiesen, dass sie lieber sterben, als sich zu bekehren.‘ Damit stand er am Ursprung des Kreuzzuges gegen die Albigenser und die Katharer, der Zehntausenden das Leben kostete und der schlussendlich die kirchliche Inquisition hervorbrachte.“

„Und drei Jahre später lässt genau jener Bernard de Clairvaux das Kloster Cambron gründen, eine Abtei unweit Eures Schlosses.“ Falkenstein war mit einem Mal interessiert.

 „Ein Stück Land am Fluss Dendre wurde ihnen sofort zur Schenkung gemacht, die Zisterzienser genossen damals überall hohes Ansehen. War nicht Papst Eugenius III. einer der ihren? Das Kloster und seine Errichtung waren nur mehr eine reine Formsache.“

Für einige Minuten gingen die beiden Männer schweigend nebeneinander, jeder in Gedanken versunken. Sie überquerten vorsichtig ausgetrocknete Furchen, die von den schweren Rädern der Holzfällerfuhrwerke in den Boden gegraben worden waren und den Weg umpflügten.   

„Doch weiter in der Geschichte, die uns interessiert, wenn Ihr erlaubt“, fuhr de Ligne fort. „Am 14. September 1307 wurde, wie Ihr wisst, der Haftbefehl Philipps IV. ausgefertigt, der alle Templer ohne Ausnahme betraf und der pflichtbewusst am 13.Oktober 1307 - also einen Monat später und das ist äußerst wichtig - von den Schergen des Königs ausgeführt wurde. Seitdem spricht man abergläubisch von Freitag, dem 13., als einem Unglückstag.“

„Mein Aberglaube hält sich in Grenzen“, warf Falkenstein leichthin ein und sah hinauf zum Sommerhimmel, der sich über einer Kuppel aus grünen Zweigen spannte. „Wir schreiben heute den 13. Juli, und es ist ein Freitag.“

Irgendwo tief drin im Wald schrie ein Käuzchen.

„Also an einem Tag wie heute?“

De Ligne nickte und blickte düster drein. „An einem Tag wie heute“, bestätigte er. „Im Frühjahr 1312 jedenfalls löste Papst Clemens V. den Templerorden auf und beendete mit seiner Bulle fast zweihundert Jahre Ordensgeschichte. Zwei Jahre später, am 18. März 1314 schließlich, wurde der Großmeister Jacques de Molay zusammen mit Geoffroy de Charnay auf dem Scheiterhaufen in Paris verbrannt.“ Der Fürst machte eine Pause, bevor er leise fortfuhr. „Euer Exzellenz werden sich fragen, was das alles mit Cambron, dem Ziel unserer Fahrt, zu tun hat? Nun, wartet ab. Ich habe Euch ein wahrhaft königliches Geheimnis versprochen und Ihr sollt es bekommen.“

Die beiden Männer erreichten eine kleine Lichtung, und de Ligne blieb stehen.

„Zurück nach in den Hennegau, nach Cambron. Im Jahre 1322 ereignete sich etwas Seltsames in der Zisterzienserabtei. Wie man aus einigen noch erhaltenen Dokumenten ersehen kann, wurde eine Statue der Jungfrau Maria durch Beschädigung entweiht, Genaueres ist nicht bekannt. Weder der Verursacher noch der Grund der Profanation wurden jemals ermittelt. Aber das Vorkommnis musste etwas ausgelöst haben, denn im selben Jahr begann der Prior des Klosters, ein gewisser Yves de Lessines, an einem Text zu schreiben.“ De Ligne machte eine effektvolle Pause. „An einem langen Text, Exzellenz, denn es dauerte ganze sechs Jahre, bis er damit fertig war.“

Falkenstein runzelte die Stirn und überlegte kurz. „Lasst mich raten, denn ich kenne Eure Begeisterung für die Vergangenheit und die Literatur, mein Teurer. Dieser Lessines schrieb eine geheime Geschichte des Templerordens, die in den Jahrhunderten verloren ging und dir Ihr nun wieder gefunden habt.“

„Falsch, Exzellenz, ganz falsch“, versicherte ihm de Ligne energisch und blickte sich erneut um. Doch bis auf das Vogelgezwitscher blieb alles ruhig im Wald, sie waren die einzigen Menschen weit und breit. „Der Text des Priors verschwand angeblich nach der Fertigstellung und tauchte erst rund zweihundert Jahre später wieder auf, jedoch in einem anderen Teil Europas. Ab da allerdings begann sein Siegeszug. Ja, man möchte fast sagen, seitdem spricht die ganze Welt davon.“

Der Graf sah ihn verwirrt und fragend an.

„Man zitierte ihn seither tausendfach in den vergangenen Jahrhunderten, er wurde zur Legende, und doch …“ De Ligne zögerte einen kurzen Moment, dann beugte er sich zu Falkenstein, bis sein Mund nur mehr Zentimeter von dessen Ohr entfernt war. Atemlos flüsterte er: „… und doch kennt man ihn heute unter einem ganz anderem Namen. Man nennt die Verse allgemein die ‚Centurien des Michel de Notre Dame‘, besser bekannt als Nostradamus.“