Montag, 13. Mai 1935, Clouds Hill, Dorset / Großbritannien
Der Mann,
der aus dem weißen, schmalen Haus mit den blaugrün gestrichenen Fenstern und
dem bemoosten Dach unweit der großen Bowington-Militärkaserne trat, war
schmächtig und klein. Er mochte Mitte vierzig sein, mit dichtem blondem Haar
über einer hohen Stirn und forschenden blauen Augen, die ein wenig
misstrauisch, oft auch melancholisch in die Welt blickten.
Fast
mechanisch sah er hinauf zu dem tiefblauen Himmel, an dem nur ein paar
Schönwetterwolken zu sehen waren. Es würde ein schöner Nachmittag ohne Regen
und Gewitter werden. Doch mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Der Brief,
den er heute Morgen von seinem Freund Henry Williamson erhalten hatte, ging ihm
nicht aus dem Kopf. Williamson, ein bekannter Schriftsteller, hatte sich,
desillusioniert von seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und den
Entwicklungen der Nachkriegszeit, den britischen Faschisten unter Sir Oswald
Moslay angeschlossen und in der Partei Karriere gemacht. Die Einladung zum
gemeinsamen Mittagessen, die der Postbote vor wenigen Stunden in das Cottage in
Clouds Hill gebracht hatte, kam seinem Bewohner gerade Recht. Wie viele seiner
Zeitgenossen in England, aber auch in Europa, war er enttäuscht vom politischen
Geschehen nach der Konferenz von
Versailles. Seine Träume, für die er gekämpft und getötet hatte, waren seit Langem geplatzt. Vielleicht hat
Williamson ja Recht, dachte er, und die treibende Kraft der neuen Zeit saß in
Berlin.
Er zog die
Tür des kleinen Hauses mit den niedrigen Decken zu, das er vor Jahren gemietet
und schließlich gekauft hatte, und überlegte für einen kurzen Moment,
abzuschließen. Dann verwarf er den Gedanken wieder. Das hier war nicht London,
sondern tiefste englische Provinz. Außerdem besaß er keine Schätze. Was sollte
man bei ihm schon stehlen? Und das Wissen in seinem Kopf, das konnte ihm
niemand nehmen. Er ganz allein würde darüber entscheiden, mit wem und ob er es
je teilen würde. Vielleicht mit dem neuen deutschen Kanzler?
Sollte er
tatsächlich mit Hitler zusammentreffen?
Für einen
Augenblick huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Sicher ein verlockender
Gedanke. Die Einladung nach Berlin lag bei Moslay und Williamson würde sie ihm
morgen beim Mittagessen übermitteln.
Der Führer
wollte ihn sehen.
Es war
warm und der Frühling schien endlich auch England erreicht zu haben. Der
perfekte Tag, um seine geliebte Brough Superior aus der Garage zu holen, dachte
der Hausherr und verzichtete darauf, den kurzen Ledermantel zu nehmen.
Stattdessen schlüpfte er in eine Jacke,
ging um das Cottage herum und rollte geschickt die mächtige Maschine aus
ihrem Verschlag. Es war das siebte Motorrad des bekannten englischen
Herstellers, das er in den vergangenen zwölf Jahren gekauft hatte. Tatsächlich
war er einer von Broughs bekanntesten und besten
Kunden. Als fanatischer Sportsmann und Motorradfahrer war er auf seinen
Maschinen kreuz und quer durch England gereist. Dabei waren Strecken von fünfhundert
Meilen am Tag keine Seltenheit, selbst auf den oftmals schlechten Straßen der
Insel. Der Jaeger-Tachometer, der nun als Sonderausstattung seine 70 PS starke
SS100 zierte und dessen Skala bis 120 mph anzeigte, reichte trotzdem nicht
für die Leistungsfähigkeit seiner Maschine aus. Oft genug war der kleine Mann
auf den Landstraßen mit über 200 km/h unterwegs. Nicht nur der Hersteller
George Brough, sondern auch die Presse bezeichnete ihn als einen der besten
Motorradfahrer des Landes.
Nach nur einem Tritt auf den Kickstarter erwachte
der Zweizylinder zum Leben. Während er die Maschine mit dem Kennzeichen GW 2275
warm laufen ließ, zog er seine Handschuhe an und setze die Motorradbrille auf.
Bis zum Postamt nach Bovington, einem kleinen Ort, der aus einer Handvoll in
der flachen Landschaft verstreuter Häuser und Bauernhöfe bestand, waren es
keine zwei Meilen. Sollte er noch einen kleinen Ausflug nach Weymouth ans Meer
anhängen, nachdem er das Telegramm mit der Antwort auf Williamsons Einladung
abgeschickt hatte? Die vierzig Meilen hin und retour würden ihm gut tun.
Der Auspuff der frisierten Brough klang wie die
Fanfaren von Jericho und brachte die Scheiben des kleinen Hauses zum Vibrieren.
Er ließ die Kupplung kommen und fing geschickt das ausbrechende Hinterrad der
starken Maschine ab, das auf dem Schotter unter dem Ansturm der Pferdestärken
sofort durchdrehte. Ein Spielchen, das er oft spielte. Er liebte schnelle
Motorräder, den Rausch der Geschwindigkeit, das Risiko und das Gefühl der
Stärke.
Die Straße entlang Bovington Camp war auf einer
Strecke von fast einer Meile so gut wie schnurgerade. Ein paar kleine
Schikanen, wie er es nannte, leichte Kurven, aber nichts Besonderes. Schnell
pendelte sich die Nadel des Tachometers bei 80 Meilen ein. Die Brough war noch
nicht auf Betriebstemperatur, der Wind im Gesicht hingegen überraschend warm. Der
Anblick der tristen, grauen Kasernenbauten, an denen er vorbeifuhr, erinnerte
ihn daran, dass er erst vor Kurzem aus der Armee ehrenvoll entlassen worden
war. Ein neuer Lebensabschnitt war angebrochen.
Vielleicht würde er ihn nach Deutschland führen.
Das kleine Postamt des Ortes hatte die Atmosphäre
eines übergroßen Wohnzimmers. Arthur, der kahlköpfige Beamte mit den
Ärmelschonern, saß seit Jahrzehnten hinter der hölzernen Absperrung mit dem
kleinen Sichtfenster. Er kannte alle und jeden, war oft genug Psychiater und
Seelsorger seiner Kunden, und züchtete nebenbei Kaninchen, die er unter der
Hand verkaufte. Arthur wusste alles, zumindest wenn es um Bovington und
Umgebung ging. So horchte er überrascht auf, als er die Brough herandonnern
hörte und der Motor vor dem Postamt erstarb. Wenige Augenblicke später betrat
der schmächtige Mann den Raum, die Motorradbrille auf der Stirn, sah sich kurz
um und bemerkte mit Genugtuung, dass außer ihm keine Kunden warteten.
„Hallo Arthur, ich möchte ein Telegramm aufgeben!“,
begrüßte er den Beamten und schob ein Stück Papier unter der Glasscheibe durch.
„Hier die Adresse des Empfängers und der Wortlaut.“
„Hallo Mr. Shaw!“, nickte Arthur und überflog kurz
die paar Zeilen. „Ihre Maschine ist ja nicht zu überhören. Damit könnten Sie
sich kaum irgendwo anschleichen.“ Er lächelte verschmitzt. „Nicht so wie in
alten Tagen. Sie sind morgen also in London zum Mittagessen?“
Shaws Augen leuchteten, als er nickte. Er kannte die
Straßen zwischen Clouds Hill und der Hauptstadt wie seine Westentasche und
betrachtete sie als seine ganz persönliche Rennstrecke. „Und am späten
Nachmittag wieder zu Hause“, gab er zurück. „Eigentlich wollte ich jetzt noch
eine kurze Spritztour nach Weymouth unternehmen, aber der Tank ist fast leer und
die Kanister mit dem Benzin stehen in der Garage. Also…“ Er seufzte und zuckte
die Schultern. „Kein Ausflug.“
Nachdem er bezahlt hatte, winkte er Arthur kurz zu,
verließ das Postamt und schwang sich wieder auf die Brough. Nachdem er das
Motorrad angelassen hatte, fühlte er mit
der rechten Hand nach dem Zylinder und stellte befriedigt fest, dass der Motor
nun fast heiß war. „Gut so“, murmelte er und fuhr los.
Nachdem er in die King George V Road eingebogen war,
gab er Gas. Die Brough sprang geradezu nach vorne und stürmte los wie ein
Rennpferd. Nach einer viertel Meile zeigte der Tachometer 90 Meilen, Tendenz
steigend. Doch dann sah Shaw weiter vorne zwei Fahrradfahrer, die auf seiner
Seite der Straße nebeneinander gemächlich dahinrollten und bremste fluchend ab.
Dahinter lag eine der Schikanen und ein paar Büsche versperrten den Blick auf
eventuellen Gegenverkehr. Nicht der richtige Zeitpunkt für einen neuen
Geschwindigkeitsrekord.
Als er nur noch hundert Yards hinter den Radlern war
und mit kaum 40 Meilen durch die leichte Kurve rollte, sah er mit einem Mal den
schwarzen Lieferwagen, der ihm in Richtung Bovington entgegen kam. Er
beglückwünschte sich zu seinem siebten Sinn, der ihn wieder einmal vor einem
Unfall bewahrt hatte. Die beiden Radfahrer hatten den Lieferwagen ebenfalls
gesehen, fuhren näher an den Straßenrand und reihten sich hintereinander ein.
Shaw beschloss, den entgegenkommenden Lieferwagen
abzuwarten und dann erst auf der schmalen Straße die beiden Radfahrer zu
überholen. Die Fahrerkabine war auf seiner Höhe, als Shaw einen fürchterlichen
Schlag gegen seinen Kopf spürte, so, als hätte jemand mit einer Eisenstange auf
seine rechte Schläfe eingedroschen. In einem letzten verzweifelten Versuch
verriss er die Brough zur Straßenmitte hin, um nicht die beiden Jungen auf
ihren Fahrrädern niederzumähen.
Dann wurde es schwarz um ihn. Der Aufprall auf die
Fahrbahn war das Letzte, was er spürte.
Corporal Ernest Catchpole vom Royal Army Ordnance Corps,
stationiert in Bovington, führte gerade seinen Hund der Straße entlang spazieren,
als er den Auspuff der Brough hörte. Er dreht sich um und sah noch, wie die
schwere Maschine über die Fahrbahn schlitterte, wie der schwarze Lieferwagen
beschleunigte und die beiden Jungen auf ihren Fahrrädern vor Entsetzen aufschrien.
Dann stürmte Catchpole auch schon los.
Der
Fahrer lag regungslos halb im Straßengraben und halb auf der Fahrbahn, sein
Kopf war blutüberströmt. Es roch nach
Benzin und der Motor der auf der Seite liegenden Brough tuckerte immer noch vor
sich hin.
Die
beiden Jungen standen völlig erstarrt mit offenem Mund neben dem Verletzten,
geschockt und wie gelähmt.
„Los!“,
schrie sie Catchpole an, der neben Shaw in die Knie gegangen war. „Radelt los
und holt Hilfe! Jetzt macht schon!“
Doch
genau in diesem Moment tauchte aus einem Feldweg ein Heeres-Lkw auf und der Corporal
überlegte nicht lange, sprang auf, stellte sich breitbeinig in die Mitte der
Fahrbahn und zwang den Fahrer zum Anhalten. Gemeinsam hoben sie den
Bewusstlosen rasch auf die Ladefläche und brachten ihn in das nur einen
Steinwurf entfernte Militärhospital der Bovington Kaserne.
Dann
überstürzten sich die Ereignisse.
Wie
aus dem Nichts standen plötzlich Beamte der Special Branch, der militärischen
Abwehr, vor dem Einzelzimmer, das man Shaw zugewiesen hatte. Catchpole und
jeder andere Soldat der Kaserne mussten zum Appell antreten und erhielten den
Befehl, nicht über den Unfall zu sprechen. Zu niemandem – unter Androhung
langjähriger Gefängnisstrafen, basierend auf der höchsten Geheimhaltungsstufe,
die das britische Militär verhängen konnte.
Code
D.
Obwohl
Shaw drei Monate zuvor aus der Air Force ausgeschieden war, gab das
Luftfahrtministerium sofort eine Presseerklärung heraus, in der es hieß, dass
es „keine Zeugen des Unfalls gegeben hätte.“
Der
Chefarzt des Krankenhauses wurde in einem Gespräch unter vier Augen instruiert.
Als Befehlsempfänger, der seit Jahrzehnten in der Armee war, konnte ihn nicht
mehr viel überraschen. Aber als Mensch und Mediziner war er geschockt, als er
an das Bett des Bewusstlosen trat und auf die schmale, fragil wirkende Figur
hinunterschaute, die in den Decken und Kissen fast verschwand. Der Kopf war
dick bandagiert, das Gesicht blass und eingefallen. Es würde keine weiteren
Untersuchungen geben, hatte der britische Geheimdienst kategorisch festgestellt
und die Ankunft einen eigenen Gehirnspezialisten angekündigt, der aus London
angefordert worden war. Alles Weitere würde man sehen.
Der
Mediziner ging tief in Gedanken versunken zum Fußende des Bettes, nahm das
dünne Holzbrett mit dem Krankenblatt zur Hand, und warf einen Blick drauf. Dann
zog er einen Bleistift aus der Brusttasche und schrieb „T.E. Shaw“ auf das
weiße Papier. Er zögerte einen Moment, überlegte, und fügte schließlich darunter
hinzu:
„Lawrence
of Arabia“.
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