Zweite Leseprobe - "Der Nostradamus Coup"
13.
Juli 1781, Abtei Cambron, österreichisch-habsburgisches Flandern
Die
Kutsche mit den beiden adeligen Reisenden rollte über gepflegte Kieswege,
entlang einer parkähnlichen Gartenanlage, an deren Ende man einen riesigen,
aufgestauten Teich mit künstlichen Inseln und Rosenrabatten an seinen Ufern erkennen
konnte. Die Alleen, gepflegt und von Blumenbeeten unterbrochen, liefen auf ein
imposantes Einfahrtstor zu, das sogar einem fürstlichen Schloss zur Ehre
gereicht hätte.
Die Abtei
selbst, auf einer Anhöhe am Ende einer majestätischen und beeindruckend langen
Freitreppe gelegen, zeugte vom Reichtum und der Macht der Zisterzienser. Hinter
der Treppe erhob sich ein mehr als sechzig Meter hoher Turm zwischen den
ausgedehnten Bauten.
„Der
Leuchtturm des heiligen Bernhard!“ De Ligne lächelte.
Graf Falkenstein
hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt und war vom Glanz und der Eleganz der
Anlage sichtbar überrascht. „Ich habe selten ein so … prächtiges Kloster
gesehen“, gestand er seinem Begleiter, nach Worten suchend, während die Kutsche
das hohe Tor im klassischen Stil, mit Säulen und Heiligennischen, passierte.
„Alles sieht so … neu aus.“
„Das
kann Eure Exzellenz kaum verwundern, wenn man bedenkt, dass die letzten
Bauarbeiten vor kaum zehn Jahren beendet wurden“, gab de Ligne zu bedenken,
bevor er sich wieder seinen Reisenotizen zuwandte. „Und das Wort, das Eure
Exzellenz gesucht haben, lautet wohl – opulent.“
„Wie
Recht Er hat“, murmelte Falkenstein, „wie Recht Er hat. Opulent.“
Die
Kutsche rollte an den Wirtschaftsgebäuden vorbei und hielt auf den Eingang der
Abtei zu.
„Hat Er
uns angemeldet?“, wollte Falkenstein wissen.
„Ich
habe heute Morgen einen Boten gesandt“, antwortete de Ligne. „Man sollte uns
also erwarten.“
Wie auf
ein Stichwort öffnete sich die Doppelflügeltür, und ein massiger,
großgewachsener Mönch trat auf den Vorplatz. Seine wachen Augen schauten den Neuankömmlingen
in der Kutsche ein wenig besorgt entgegen. Während er sich mit der Hand über
seinen grauen Haarkranz strich, der eine spiegelnde Glatze umrahmte, flatterten
die graue Tunika und das schwarze Skapulier im Sommerwind. Hinter ihm
erschienen nach und nach rund ein Dutzend Mönche, die etwas zögerlich
Aufstellung links und rechts des Portals nahmen.
„Seht,
der Abt erwartet uns bereits.“ De Ligne selbst wartete nicht ab, bis einer der
Diener den Schlag der Kutsche geöffnet hatte. Er sprang aus der noch rollenden
Kutsche und eilte geradewegs auf den Abt zu, um ihm die Hand zu schütteln.
„Durchlaucht,
es ist uns eine große Ehre, Sie in unserer Abtei willkommen zu heißen …“ Es war nicht der Abt, sondern sein Stellvertreter Florent Pépin, der die beiden Reisenden empfing. Seine Stimme war voll und tief und verriet
Selbstsicherheit. Er verneigte sich und entschuldigte Abt Malachie Hocquart, der schwer krank darniederlag. Dann schaute über de Lignes Schulter und fragte: „Wer begleitet
Euch auf Eurer heutigen Reise? Ist …?“ Pépin verstummte überrascht, als Graf
Falkenstein aus der Kutsche stieg und sich kurz umsah, bevor er auf die Gruppe
von Mönchen zuschritt. „Mein Gott, es ist …“ Der Stellvertreter des Abts sank in die Knie und
konnte seine Augen nicht von Falkenstein abwenden. „Majestät, welche Ehre …“
Die
Mönche standen erst erstarrt, dann taten sie es ihm gleich, knieten
nieder und senkten die Köpfe.
De
Ligne hingegen lächelte seinem Reisebegleiter zu. „Ihr seid einfach zu bekannt,
Majestät. Euer Inkognito ist dünn wie Seidenpapier. Da nützt keine Verkleidung
und kein staubiger Mantel.“
Josef
II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, König von Böhmen, Kroatien und
Ungarn, Herrscher über halb Europa, nickte nachdenklich und bedeutete den Mönchen, sich zu erheben.
„Wahrscheinlich
habt Ihr Recht, mein Freund“, meinte er an Fürst de Ligne gewandt. „Die Zeit
der unbeschwerten Reisen geht zu Ende. Man erkennt mich ja schon überall.
Selbst in abgelegenen wallonischen Zisterzienser-Klöstern …“
„Vor
allem in Klöstern und Abteien“, ergänzte de Ligne ironisch. „Da kennt und
fürchtet man Euch.“
Der
Kaiser winkte ab. Als in diesem Moment ihm zu Ehren die Glocken der
Klosterkirche zu läuten begannen, verzog er das Gesicht. „Die Glocken sind die
Artillerie der Geistlichkeit. Damit schießen sie uns in Grund und Boden.“
Eine
Stunde später, nach einer ausgedehnten Führung durch Park und Abtei, hatte Pépin seine illustren Gäste zu einem rasch improvisierten Mahl eingeladen, für
dessen Einfachheit er sich immer wieder aus Neue entschuldigte. Selbst als de
Ligne den Wein, das Bier und die ausgezeichnete Wildpastete lobte, sagte der Mönch:
„Wenn ich gewusst hätte, dass Majestät uns die Ehre geben, dann wäre ich … hätte
ich …“
Joseph
II. unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. „Haben sich die
Zisterzienser nicht einer einfache Lebensweise verschrieben? Nun, dieses Mahl
hätte auch am Hof in Wien jedermann zufrieden stellen können. Und ich bin an
diesem heißen Tag nicht wegen der Völlerei nach Cambron gekommen. Fürst de
Ligne deutete an, Ihr würdet mir von einer ganz besonderen Geschichte
berichten, die sich im vierzehnten Jahrhundert hier abgespielt hat.“
Pépin nickte eifrig und erhob sich. „Nur zu gerne, Majestät. Wenn Ihr mich begleiten würdet?“
Joseph
II. stand auf und bedeutete de Ligne, hier zu warten, was sich der Fürst
angesichts der Köstlichkeiten auf der langen Tafel nicht zweimal sagen ließ. Dann
folgte er dem Stellvertreter des Abts.
„Was
soll das?“, fragte der Kaiser wenig später irritiert, als er neben Pépin
vor einem der eindrucksvollen, ausladenden und reich verzierten Beichtstühle in
der Klosterkirche stand.
„Nun,
Majestät, wie Ihr wisst, sitze ich normalerweise in der Mitte und die
bußwilligen Sünder in den Seitenflügeln“, erklärte Pépin leise. „Sie beichten
ihre Sünden, ich erteile ihnen Absolution und erlege ihnen eine Buße auf.“ Er
schaute auf den Kaiser hinunter, der einen guten Kopf kleiner war, als er. „Diesmal
ist es umgekehrt. Seid Ihr nicht Kaiser von Gottes Gnaden? Seid Ihr es nicht,
der auf eine Rückbesinnung auf den katholischen Glauben und damit auf einen
religiös begründeten Zusammenhalt des Staates abzielt? Unterstehen wir
unsererseits nicht Eurer Gnade und Eurem Wohlwollen? Nun, dann ist Euer Platz
diesmal in der Mitte des Beichtstuhls, während ich den harten Sitz des armen
Sünders einnehmen werde. Denn glaubt mir eines, Majestät, der Beichtstuhl ist
er einzig richtige Platz für die Einzelheiten dieser Geschichte, die Ihr von
mir fordert. Danach sollt Ihr darüber entscheiden, was mit meiner Beichte
geschieht. Die Verantwortung liegt dann bei Euch.“
Damit
ließ er Joseph II. stehen und ging mit raschen Schritten zur rechten Seite des
Beichtstuhls, zog die hölzerne Tür auf und verschwand im Inneren.
Der
Kaiser blieb zurück, verwirrt und für einen Moment unschlüssig. Doch dann
siegte seine Neugier und er folgte Pépin in den Beichtstuhl.
Mehr
als eine halbe Stunde war vergangen, als Joseph II. bleich und angespannt
wieder ins Kirchenschiff trat.
Pépin kniete bereits im Mittelgang, tief versunken im Gebet. Es roch nach
Weihrauch und erloschenen Kerzen.
Der
Kaiser überlegte für einen Moment, zu ihm zu gehen, weiter nachzufragen, doch
dann drehte er sich abrupt um und verließ die Klosterkirche. Er hatte genug
gehört, ja, bereits zu viel.
Wie in
Trance ging er zur Kutsche, stieg ein und schickte einen der Diener nach de
Ligne. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken rasten,
und er fragte sich zum hundertsten Mal, ob das möglich sei, was Pépin ihm
geschildert hatte. An den Schritten, die sich der Kutsche näherten, erkannte er
den Fürsten, und er öffnete die Augen wieder. Da fiel sein Blick auf ein
kleines Päckchen, das wohl einer der Mönche auf der Sitzbank gegenüber
deponiert hatte.
„Geht
es Euch gut, Exzellenz?“, hörte er de Ligne besorgt fragen und nickte nur, wog
den Umschlag in seiner Hand, zögerte hinein zu sehen.
„Was
habt Ihr da?“, erkundigte sich der Fürst weiter und beugte sich neugierig vor.
„Eine Wegzehrung für die Reise zurück auf mein Schloss? Ich für meinen Teil
brauche heute nichts mehr zu essen …“
Stumm
riss Joseph II. den Umschlag auf. Darunter kam ein altes, in rötliches Leder gebundenes
Büchlein zum Vorschein, und der Kaiser wusste mit einem Mal, was es war.
„Hat die Abtei Euch etwa …?“, setzte de Ligne mit großen Augen an, aber der Kaiser
wehrte ab.
„Fahren
wir!“, entschied er und nahm das Buch in beide Hände. „Ich muss zurück nach
Wien. Wenn Nostradamus gewusst hätte, was er in Händen hielt, dann hätte er es
niemals veröffentlicht. Ganz im Gegenteil.“
Pépin und die Mönche blickten der Kutsche lange hinterher. In einer
Staubwolke, die in der späten Sommersonne golden glänzte, wurde sie immer
kleiner und verschwand schließlich am Ende der Allee.
„Gott
allein weiß, ob ich der Abtei, unserem Orden und dem Andenken Bernard de
Clairvaux heute ein gutes Werk getan habe“, sagte Pépin nachdenklich.
„Vielleicht gibt es auf dieser Welt Geheimnisse, die besser im Verborgenen
bleiben sollten.“
Die
Befürchtungen des Abtes bewahrheiteten sich rasch. Zwei Jahre nach seinem Besuch reihte Joseph II. die Abtei Cambron in die Kategorie
der „unnützen Klöster und Abteien“ ein und beschloss deren Aufhebung.
Am Vormittag
des 26. Mai 1789 traf eine Delegation berittener Soldaten ein, die sämtliche
Bilder, Dokumente, Handschriften, Inkunabeln und Akten aus dem Kloster
einsammelten, in Kisten verpackten und auf einen vierspännigen Wagen verluden,
der ohne Umwege, aber unter schwerer militärischer Bewachung nach Wien
zurückkehrte.
Einen
Tag später wurden die Mönche verjagt, die Abtei blieb menschenleer zurück.
Einige Wochen
später waren die zurückgelassenen Bücher der Bibliothek bereits in alle Winde
zerstreut.
Einige Monate
später war der Großteil der verbliebenen Möbel gestohlen, verschwunden in nahe
gelegenen Bauernhöfen, den Wohnungen und Häusern des Landadels oder von
Händlern verschachert.
Einige
Jahre später wurden die noch verbliebenen Gebäude verkauft und von den
jeweiligen Besitzern nach und nach demoliert.
Joseph
II. hatte sein Ziel erreicht. Cambron war nur noch ein Schatten seiner selbst,
die Erinnerungen an die Verse des Yves de Lessines getilgt.
Der
Kaiser hatte die späte Schlacht gegen den Heiligen Bernhard gewonnen.
Doch genießen
konnte er seinen Sieg nicht mehr. Er starb im Februar 1790 an Tuberkulose.
Nur
wenige trauerten um ihn.
Das Buch mit den Versen von
Yves de Lessines, das Pépin dem Kaiser zun Geschenk gemacht hatte, war
spurlos verschwunden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen