3. August 2010, Carl-Storch-Straße, Stadtteil Aigen, Stadt Salzburg/Österreich
Das
kleine, weiße Haus in dem verwilderten Garten mit der angebauten Garage sah
verlassen und unbewohnt aus. Die Gitter vor den schmutzigen Fenstern, ihrer
Form nach aus den fünfziger Jahren, waren rostig, der Verputz des bescheidenen
Hauses grau und an manchen Stellen abgebröckelt. Aus dem Dach wuchsen Moose und
eine kleine Birke, die in der Dachrinne siedelte, wiegte sich im leichten Wind.
Der Mann,
der nachdenklich an dem niedrigen Gartentor lehnte und in den fast lilafarbenen
Abendhimmel blickte, war schlank und durchtrainiert. Seine verwuselten, blonden
Haare leuchteten im Licht der nahen Straßenlaterne. Alexander
Reiter mochte Mitte vierzig sein, mittelgroß, mit grün-braunen Augen, die stets
etwas belustigt in die Welt blickten. Er trug ausgebleichte Jeans und ein
verwaschenes T-Shirt und sah mit seiner Umhängtasche aus wie ein
spätberufener Student.
Doch
Reiter war alles andere als das.
Nach
einem letzten Blick auf das Haus, den völlig ungepflegten Garten, die
grasbewachsenen Gehwege und das herabhängende Vordach sprang er über den
niedrigen Zaun und war einen Augenblick später zwischen den dichten Büschen
verschwunden.
Wie ein
Schatten, der sich einfach in Nichts auflöste.
Niemand
hatte ihn kommen gesehen, niemand würde ihn gehen sehen.
Die
hölzerne Haustür begann bereits, sich in ihre Bestandteile aufzulösen. Die
Bretter, eher schwarz als braun, wölbten sich und von der Messingleiste, die
früher den unteren Teil der Tür schützte, waren nur mehr einige Metallfetzen
übrig.
Reiter
warf einen schnellen Blick in die beiden Mülltonnen, deren Deckel mit Blättern
bedeckt waren. Leer. Er schnüffelte. Nichts zu riechen. Das Haus war bereits
seit längerer Zeit verlassen.
Da alle
Fenster vergittert waren, blieb ein einziger Weg - durch die marode Haustür.
Reiter zog einen Dietrich aus der Tasche und das altersschwache Schloss hielt keine
dreißig Sekunden stand, bevor die Tür quietschend in den trockenen Angeln nach
innen schwang. Vorsichtig schob sich Reiter durch den Spalt ins Haus und
drückte hinter sich die Tür wieder zu. Das war einfacher gegangen, als er es
erwartet hatte.
Die dünne
Taschenlampe, die er aus seiner Umhängtasche zog, verbreitete einen kalten
Schein. Der scharf abgegrenzte Lichtkegel huschte über Wände mit fadenscheinigen
Tapeten, Stühlen aus den siebziger Jahren, Spannteppiche in allen Stadien der
Auflösung, einem Abreißkalender von 1981.
In jedem
Raum schien sich Müll zu stapeln. Reiter stieg über Berge leerer Verpackungen,
gefüllten Mülltüten, zerfledderten Kartons. Warum hatte sie niemand in die
leeren Mülltonnen bei der Einfahrt entsorgt?
Chaos,
dachte er, hier herrscht das totale Chaos.
Er stieß
die nächste Tür auf und warf einen Blick in die Küche. An Essen kochen war hier
nicht mehr zu denken. Reiter ließ den Strahl der Taschenlampe über die
schmutzigen Schränke wandern, die mit Müll und Essensresten überfüllten
Arbeitsplatten , die Ameisen bereits vor längerer Zeit für
sich entdeckt und besetzt hatten.
Der
Lichtkegel riss stapelweise Packungen mit Fertigknödeln aus dem Dunkel. Offenbar
aß der Hausherr sie ungekocht aus der Tüte...
Als
Reiter weiter ins Haus vordrang, bemerkte er, dass alle Fensterscheiben
mit Zeitungsseiten beklebt worden waren, damit niemand einen Blick ins Haus
werfen konnte.
Zum
ersten Mal fragte sich Reiter, ob ihm sein Informant nicht einen Bären
aufgebunden hatte.
Er stieß
die Tür zum nächsten Zimmer auf. Eine Bibliothek? Die Bücher in den Regalen waren schon vor
langer Zeit der Feuchtigkeit im Haus zum Opfer gefallen und
begannen sich zu zersetzen.
Schimmel hatte den Rest besorgt. Aus dem
Lehnsessel hatten Mäuse die Polsterung gerissen, der Stoff hing in Fetzen
herunter. Ein alter Aschenbecher machte Werbung für das Österreich der späten
sechziger Jahre.
Es war
totenstill. Reiter schien es, als hielte das Haus den Atem an. Er konnte
Wohnungen und Häuser lesen, wie andere Artikel in der Zeitung. Sie erzählten
ihm ihre Geschichte, verrieten ihm, was er wissen wollte. Über die Bewohner,
die Besucher, die Vergangenheit. Oft wie Komplizen, manchmal wie Diven. Aber
sie sprachen stets zu ihm. Was ihm jedoch dieses Haus verriet, wollte er
eigentlich gar nicht wissen.
Nach
einem letzten Rundblick machte er sich auf den Weg nach oben, über den dünnen
Läufer, der die Stufen bedeckte. Spinnweben hingen vor den Fenstern, verstaubte
Gardinen vor den Zeitungen; alles verbreitete eine bedrückende Atmosphäre der
Trostlosigkeit.
Am ersten
Treppenabsatz war eine Decke über eine Kiste oder ein paar Schachteln gebreitet
und Reiter ging in die Hocke, hob sie an und leuchtete mit seiner Lampe
darunter.
Unter
einer dünnen Schicht von Schimmel und Staub erkannte er lächelnd das Gemälde Montagne Sainte-Victoire
von Paul Cézanne und wusste mit einem Mal, er war an der richtigen Stelle.
Vorsichtig nahm er die Taschenlampe zwischen die Zähne und hob behutsam die
Decke ab. Rund zwanzig Bilder lehnten an der Wand.
Monet,
Pissaro, Renoir. Verstaubt, schmutzig, teilweise von schwerem Schimmelbefall
gezeichnet.
Kopfschüttelnd
deckte Reiter die Kostbarkeiten wieder zu. Dann stieg er weiter die Treppe
hinauf, zog eine Liste aus seiner Tasche und überflog sie kurz. Als er die
nächste Tür aufstieß, verschlug ihm der Anblick den Atem. Zwischen Müll und
alten Zeitungen waren im gesamten Raum Stapel von Bildern verteilt, lehnten an
den Wänden, lagen auf den Möbeln.
Hunderte
Werke weltbekannter Maler zwischen leeren Schachteln von Fertigknödel …
Reiter
erkannte Bilder von Max Liebermann, Edvard Munch, die Radierung Tête de femme von Picasso. Auf einer
Anrichte stand eine Bronzeskulptur von Auguste Rodin. La Danaide, die Liegende
Frau auf dem Felsen. Als er
einige der Mappen aufschlug, die auf einem Tisch lagen, erkannte er Aquarelle
von Pablo Picasso, durch die sich bereits die Würmer gefressen hatten.
Reiter
spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Gier und Dummheit machten ihn immer
wieder zornig. Er klappte die Mappen wieder zu und ging ins nächste Zimmer.
Erneut ein Raum voller Gemälde, Bilder überall. Selbst auf dem Bett waren sie
gestapelt. Der Zustand der meisten war beklagenswert.
Es tat
Reiter in der Seele weh.
Rasch zog
er einen Fotoapparat aus seiner Umhängetasche und begann zu fotografieren. Die
wenigen Bilder auf seiner Liste, insgesamt fünf, stellte er beiseite, als er
sie nach und nach unter dem Abfall entdeckte.
Nach etwa
zwei Stunden hatte er das Haus vom Dachboden bis zum Keller durchkämmt und alle
Bilder erfaßt. Insgesamt zählte er 239 Meisterwerke plus
der fünf, wegen denen er gekommen war. Schließlich zog er zwei dünne Riemen aus
seiner Tasche, band die Bilder zusammen und schlug sie in eine Decke. Das
Bündel war handlich und erstaunlich klein.
Aber millionenschwer.
Dann
verließ Alexander Reiter das kleine weiße Haus im Stadtteil Aigen wieder und
verschloss die Tür. Alles war ruhig, Garten und Straße lagen verlassen da. Es
war dunkel geworden und die Straßenlaternen warfen ein gelbliches Licht auf den
Asphalt. Das noble Wohngebiet im Süden Salzburgs bereitete sich darauf vor,
seine Bewohner ins Bett zu schicken.
Sein
dunkler Mercedes-Bus stand in der nächsten Seitenstraße unter einem Baum.
Reiter verstaute das Bündel im Laderaum und ließ sich auf den Fahrersitz
fallen. Dann holte er ein Handy aus dem Handschuhfach, legte eine brandneue
Prepaid-Karte ein und wählte eine Nummer in Tel Aviv, die er aus früheren
Zeiten kannte. Als der Teilnehmer sich mit einem vorsichtigen „Hallo?“ meldete,
begann Reiter zu sprechen.
„Mein
Name tut nichts zur Sache, nennen Sie mich einfach Rebus. Hören Sie gut zu, ich
werde Ihnen diese Geschichte nur einmal erzählen und nichts wiederholen.
Stellen Sie keine Fragen, sonst lege ich sofort auf. In der Salzburger
Carl-Storch-Straße in Österreich gibt es ein verlassenes, weißes Haus. Es
gehört dem Sohn eines der bedeutendsten Kunsthändler des Dritten Reichs, Hildebrand Gurlitt. Der war damals
einerseits damit beauftragt, die aus deutschen Museen beschlagnahmte sogenannte
‚Entartete Kunst‘ ins Ausland zu verkaufen, zum anderen war er nach Beginn des
Zweiten Weltkriegs als einer der Haupteinkäufer für das Hitler-Museum in Linz am nationalsozialistischen Kunstraub
beteiligt. Vor allem in Frankreich. Doch zurück zu dem Haus in Salzburg. Da
liegen mehr als zweihundert Meisterwerke unter anderem von Picasso, Renoir,
Monet und Cézanne und verrotten. Ich denke, das sollte für eine fundierte
Recherche des Instituts reichen. Und Ihre Kontakte zu den deutschen und
österreichischen Behörden sind sicherlich von gegenseitigem Wohlwollen geprägt.
Shalom.“
Damit
legte er auf und nahm grinsend die Karte aus dem Handy, knickte sie in der
Mitte und ließ sie in den nächsten Kanal fallen. Dann legte er das Mobiltelefon
vor den linken Vorderreifen, startete den Bus und rollte darüber.
Wer mit
dem Mossad telefonierte, konnte nicht vorsichtig genug sein.
*
Wenig
später steuerte Reiter den Bus über die Tauernautobahn Richtung Süden, durch
Tunnels und über Brücken und rollte zwei Stunden später nördlich an Villach
vorbei, bevor er die Abzweigung in Richtung Tarvis und Udine nahm. Die
ehemalige Grenzstation zu Italien war verwaist. Nicht einmal ein einsames
Polizeifahrzeug parkte in einer der dunklen Zufahrten.
Im Radio
sang Gianna Nannini Bello e impossibile
und Reiter sang mit. Wenig später querte die Autobahn das erste Mal den Fluss
und das breite, steinige Bett des Tagliamento oberhalb von Udine leuchtete im
Mondlicht fast blendend weiß.
Die roten
Digitalziffern der Uhr am Armaturenbrett sprangen auf 03 Uhr 55, als Reiter die
Stadtgrenze von Triest überquerte und die abschüssige Straße zum Hafen hinunter
rollte. Wenig später erreichte er die Piazza Giotti, wo sich die Umrisse der
großen jüdischen Synagoge der Stadt gegen den Morgenhimmel abzeichneten. Triest,
die alte österreichische Hafenstadt, schlief noch und die Straßen waren bis auf
ein paar geschäftige Putzkolonnen der Stadtverwaltung menschenleer.
Reiter
stieg aus und atmete tief durch. Die Luft war warm, roch nach Meer und Seetang,
nach Schiffsreise und Urlaub im Süden. Er blickte die Fassade der Synagoge
hoch, die ein wenig an eine Trutzburg mitten in der Stadt erinnerte. Bereits in
der Mitte des 13.Jahrhunderts hatten sich Juden in Triest angesiedelt und sie
waren gekommen, um zu bleiben. Geschützt von einem Toleranzpatent von Kaiser
Joseph II. gründeten sie in Triest Versicherungen und
Schifffahrtsgesellschaften, wie die Generali
oder den Österreichischen Lloyd. Doch
die Spuren der großen Familien aus Habsburger Zeiten waren lange verweht. Geblieben
waren eine jüdische Gemeinde von rund sechshundert Menschen, die im Laufe der
Jahrzehnte aus aller Herren Länder nach Triest gekommen waren, und eine
prächtige Synagoge.
Vorsichtig
löste Reiter die Riemen und zog einen kostbar gestalteten Rahmen heraus, der
ein fein gezeichnetes, koloriertes Blatt enthielt. Es zeigte eine chinesisch
wirkende Parkanlage mit einer Brücke über einen See und einem Pavillon mit
Pagodendach im Hintergrund. Er legte es beiseite und verschnürte die übrigen
Bilder erneut. Mit dem Bündel auf der Schulter überquerte er die Via Guido
Zanetti und suchte nach einer ganz bestimmten Tür unter den Arkaden der
Synagoge. Dann drückte er auf den Klingelknopf und wartete.
„Sai che ore sono?” Der Hausmeister sah den frühen Gast verdattert an und tastete
gleichzeitig nach seiner Brille in der Tasche seines Schlafrocks.
“Es tut mir leid, Sie geweckt zu haben, aber dies hier gehörte
einmal der Familie Vivante.
Ich bin mir sicher, Sie werden es an die richtigen Stellen weiterleiten.“ Damit
lehnte er das Bündel an die offene Tür, drehte sich um und verschwand in der
Dunkelheit, bevor der Hausmeister seine Brille aufgesetzt hatte.
„Signore!
Aspetta … un momento …!“, hallte es über die Straße, doch Reiter lief bereits
zu seinem Bus, startete den Motor und beschleunigte wenige Augenblicke später
die Via Zanetti hinunter in Richtung Hafen.
„Und
jetzt nach Antwerpen“, murmelte er lächelnd.
*
Das
Telefonat, das Reiter mit dem israelischen Geheimdienst in jener Nacht führte,
brachte die sogenannte „Affäre Gurlitt“ ins Rollen. Vier Wochen später wurde
Cornelius Gurlitt im Zug von Zürich nach München von deutschen Zollfahndern
kontrolliert. Er hatte neuntausend Euro bei sich und obwohl diese Summe unter
die gesetzliche Zehntausend-Euro-Grenze fiel, ließen die Beamten aus bisher
unbekannten Gründen nicht locker und leiteten Ermittlungen ein. Gurlitt, der
als Heimatadresse München angab, war da jedoch weder gemeldet, noch hatte er
eine deutsche Bankverbindung oder eine Sozialversicherung. Mehr als ein Jahr
später wurde seine Kunstsammlung beschlagnahmt. Im November 2013 gab der
ermittelnde Staatsanwalt an, dass die Bilder in München und Salzburg kein
Zufallsfund gewesen seien. Man habe „im Zusammenhang mit den
steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gezielt gesucht.“
Doch das
Telefongespräch hatte noch weitere Folgen. Der Mann in Tel Aviv hatte sich eine
Notiz gemacht, in die Ecke einer Schreibtischunterlage. Sie bestand aus drei
Worten: Rebus – Gemälde – Cobra.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen