Donnerstag, 2. Juni 2016
Glenfinnan, Loch Shiel, Schottisches Hochland
Der breitschultrige, ältere
Mann, der auf der frisch gestrichenen, langen weißen Bank an der Hauswand saß,
an seinem Tee schnupperte und in die Morgensonne blinzelte, hatte militärisch
kurz geschnittene weiß-graue Haare und ein kantiges Gesicht. Seine eisgrauen
Augen schauten etwas skeptisch und verschlafen in den neuen Tag, der laut
Wetterbericht sonnig und klar werden sollte. Noch lagen einige dünne
Nebelschwaden über dem See wie ein dünner Schleier, der sich im Sonnenlicht
auflösen würde.
Der Ausblick auf die
dunkelblauen Wellen des Loch Shiel, auf die grünen, mit Heidekraut und
Buschwerk bedeckten Berge, den hohen Himmel mit den schnell ziehenden Wolken
und die damit verbundenen ständig wechselnden Lichtstimmungen, faszinierten den
Mann stets aufs Neue.
Seit er vor wenigen Monaten
in das kleine, niedrige Haus aus dunklen Granitsteinen in der Mitte von
Nirgendwo gezogen war, hatte er sich hier noch keine Sekunde gelangweilt.
Obwohl hier ganz eindeutig das Ende der Welt war, wie er sich selbst jeden
Abend eingestand, wenn er vor dem Schlafengehen einen letzten Blick auf das
weite Tal warf. Dann löschte er das Licht, lauschte dem Wind, der vom Wasser
herauf kam und der Geschichten und Legenden vom nahen Atlantik mitbrachte.
Glenfinnan war ein kleiner
Ort, selbst für schottische Verhältnisse. Ein Dutzend Häuser, die sich zwischen
Steinmauern und vom Wind gepeitschten Baumgruppen duckten und etwas planlos in
der Wildnis des Schottischen Hochlands verstreut lagen. Doch allen war eines
gemeinsam – der atemberaubende Blick auf Loch Shiel, dem achtundzwanzig
Kilometer langen tiefblauen See, malerisch eingerahmt von grünen Bergen.
Hier kannte jeder der
hundert Einwohner jeden - und das seit Generationen. Die Jugend der Gegend,
eine Handvoll Halbwüchsiger, die gemeinsam aufgewachsen waren und in die
gleiche, zwanzig Kilometer entfernte Schule gingen, traf sich regelmäßig vor
dem Postamt, dem sozialen Hotspot Glenfinnans, das zugleich auch Tante-Emma-Laden
und Nachrichtenbörse war.
Mehr städtisches Leben
konnte man in Glenfinnan nicht erwarten, beim besten Willen nicht. Der Ort
hatte zwar sogar eine Webseite am Internet, auf der jedoch unter der Rubrik Latest News & Events lakonisch „none
found“ stand.
Und das seit Jahren
unverändert.
Zwei kleine Bed &
Breakfast, die sich etwas hochtrabend „Landhotels“ nannten, teilten sich die
Zahl der Durchreisenden, die meist wegen der unverfälschten Natur und der
wilden Landschaft in das schottische Hochland kamen. Ben Nevis, der höchste
Berg Schottlands, lag nicht weit entfernt,
und so zog der als einsam und menschenfeindlich bekannte Landstrich jedes Jahr
ein paar stadtmüde Erholungssuchende mehr an.
Doch alles mit Maß und Ziel:
Die Landesstraße A830, an der Glenfinnan lag, war im Norden eine Sackgasse.
Dreißig Kilometer weiter, nachdem sie sich durch Orte wie Druimindarroch,
Lochailort oder Portnaluchaig gewunden hatte, stürzte sie sich bei Mallaig
erschöpft in den Atlantik.
Der Mann auf der Bank musste
bei dem Gedanken grinsen und leerte genüsslich seinen Becher mit Orange Pekoe
Tea. Das dunkelgraue Haus, an dessen Steinwand er saß, machte den Eindruck, als
ziehe es sich das moosbedeckte Dach wie eine schützende Mütze über den Kopf.
Das verfallene Anwesen, Slatach House, zu dem es früher gehört hatte, lag nur
einen Steinwurf entfernt. Manchmal verirrte sich ein Wanderer hierher,
angelockt durch die Ruinen des alten Herrenhauses, aus denen die Bäume und
Sträucher wuchsen. Meist kamen aber nur Schafe vorbei, die wieder einmal durch
ein Loch im Zaun entkommen waren, auf der Suche nach noch saftigeren Gräsern.
Das alles war Major
Llewellyn Thomas, dem neu zugezogenen, nur Recht. Noch verspürte er nicht das
geringste Heimweh nach seiner Wohnung im Herzen Londons, vermisste nicht eine
Sekunde lang seinem ehemaligen Chef Peter Compton, den alten Fuchs mit seinen
Geheimdienst-Intrigen, seinem weltweiten Netzwerk und seiner ständigen Sorge um
das Britische Empire.
Ein Motor brummte auf der
schmalen Zufahrtsstraße und riss Llewellyn aus seinen Gedanken. Er wandte seine
Aufmerksamkeit dem kleinen gelben Bus zu, auf dem riesige rote Lettern für
„Sexy Kilt Country Tours“ Werbung machten. Andrew, Fremdenführer, Busfahrer und
Postbote in Personalunion, betrieb nebenbei ein kleines Ausflugsunternehmen für
Touristen zu den nahegelegenen Whisky-Brennereien und den schönsten
Aussichtspunkten auf der Stecke.
Was es allerdings mit dem Sexy Kilt auf sich hatte, das hatte
Llewellyn in den vergangenen Wochen nicht herausfinden können. Andrew selbst
trug meist Cordhosen und Pullover.
Der junge Mann bremste den betagten
Bedford-Bus genau vor Llewellyns Bank ab und die Türen öffneten sich mit einem
etwas erschöpft klingenden Zischen.
„Guten Morgen, Major!“,
winkte Andrew gut aufgelegt und sein roter Haarschopf leuchtete frisch
gewaschen. „Bin heute etwas früher dran, aber ich muss gleich eine große Gruppe
nach Loch Eil und zur Ben Nevis Destillery bringen.“
„Groß?“, erkundigte sich
Llewellyn stirnrunzelnd.
Andrew zuckte mit den Schultern,
während er in dem Postsack neben seinem Fahrersitz kramte. „Na ja, acht Leute“,
murmelte er fast entschuldigend. „Aber sie wollen meinen Bus bis heute Abend
mieten. Abendessen in Mallaig, dann nehmen sie die Fähre nach Armadale.“
„Whisky-Tours?“, stieß
Llewellyn nach und Andrew nickte grinsend.
„Sind die besten Gäste“,
stellte der Postbote fest und fuhr sich durch den Schwall roter Haare. „Kommen
hierher, lassen Geld da, trinken gern und singen danach noch lieber. Harmlos
und vor allem: Keiner beschwert sich am Ende der Tour.“ Er lachte fröhlich und
zog zwei Poststücke aus dem grauen Sack, dann sprang er aus dem Bus. „Heute
habe ich nur den Guardian und ein
Päckchen für Sie.“ Andrew reichte Llewellyn die Zeitung und ein etwas abgewetzt
aussehendes, längliches Paket. „Keine Unterschrift. Ich muss weiter!“,
verkündete er hektisch und bestieg wieder seinen Bus.
„Moment!“
Die Stimme des Majors ließ
Andrew zusammenzucken.
„Das ist nicht für mich.“
Llewellyn hielt das Päckchen hoch und sah Andrew forschend an. „Ich heiße noch
immer nicht Charles R. Parker und ich kenne auch niemanden, der so heißt!“
„Aber die Adresse stimmt!“,
gab Andrew fast trotzig zurück.
Der Major warf einen zweiten
Blick auf das kleine Paket. Tatsächlich stand da seine Adresse in Glenfinnan …
Slatach House … Aber Parker?
„Vielleicht ist dieser
Charles Parker umgezogen?“, gab Llewellyn zu bedenken. „Du kennst doch alle
hier. Klingelt’s nicht bei dem Namen?“
Andrew schüttelte energisch
den Kopf. „Nie gehört. Ich dachte, vielleicht kennen Sie ihn. Müsste vielleicht
meinen Vater fragen?“
Der Major runzelte die Stirn
und betrachtete das Päckchen eingehender. Kein Absender, eine ganze Reihe von
Briefmarken mit dem Porträt Elisabeths, mehrere verwischte Stempel. Es sah aus,
als sei das Paket irgendwann nass geworden. Doch da, unter der letzten Reihe
von Marken, war einer der Stempel noch klar und deutlich auf das Packpapier
gedrückt.
„Andrew?“ Die Stimme
Llewellyns verriet nichts Gutes und der junge Mann seufzte.
„Ich muss jetzt wirklich weiter,
Major“, wandte er ein. „Meine Gäste warten.“
„Dieses Paket wurde bereits
am 18. Juni 1969 in Hongkong aufgegeben“, meinte Llewellyn und setzte lakonisch
hinzu: „Mir war nicht klar, dass die Königliche Post soo
langsam ist.“
„Unmöglich“, murmelte Andrew
erstaunt und stieg prompt wieder aus. „Das gibt es nicht …“
Der Major streckte ihm das
Paket entgegen. „Sieh selbst. siebenundvierzig Jahre lang unterwegs von
Hongkong nach Schottland, verschollen in den Untiefen der Postämter Ihrer
Majestät.“
Andrew betrachtete die
Stempel, drehte und wendete das Paket, kratzte sich ratlos am Kopf und zuckte
schließlich die Schultern.
„Hiermit zugestellt an die
richtige Adresse“, schloss er pragmatisch den Fall und zwinkerte Llewellyn zu,
bevor er es ihm wieder in die Hand drückte. „Werfen Sie es weg, wenn Sie es
nicht haben wollen. Charles Parker gibt es hier offenbar nicht mehr und wenn es
ihn je gegeben hat, dann ist er bereits lange tot und wird das Päckchen nicht
mehr vermissen. Und jetzt muss ich wirklich los. Bis morgen!“
Damit sprang Andrew in
seinen Bedford, startete den Motor und wendete. Die Türen schlossen sich
zischend und der gelbe Bus schaukelte durch die Buschreihen davon in Richtung
A830.
„So kann man postalische
Zustellungsprobleme natürlich auch lösen“, murmelte Llewellyn, während er
nachdenklich auf das Päckchen aus der Vergangenheit blickte.
Charles R. Parker …
Für einen Moment überlegte
der Major, das in braunes, fleckiges Packpapier eingeschlagene Paket unberührt
zu lassen, es auf den niedrigen Speicher unterm Dach zu legen und dort einfach
zu vergessen. Der Sommer war bisher überraschend warm gewesen und der geborene
Waliser Llewellyn gedachte, auch weiterhin die kürzeste, aber auch schönste
Jahreszeit Englands in aller Ruhe auf der weißen Bank vor seinem Haus zu
genießen.
Diesen Sommer Jahr einmal
ohne Stress, ohne Abenteuer, ohne Schießereien, dafür aber mit viel Whisky und
Tee, Zeitschriften und Büchern.
Llewellyn, nach unzähligen
Einsätzen für den britischen Geheimdienst MI5 und MI6 seit einigen Jahren im
Unruhestand, wie er es nannte, hatte für das Empire immer wieder in der
Krisengebieten der Welt die Kastanien aus dem Feuer geholt.
Und sich dabei oft genug die
Finger verbrannt.
Nach den gefährlichen
Einsätzen mit seinem Freund, dem Piloten John Finch in den vergangenen Jahren
in Südamerika, Asien und Europa, plante der Major für diesen Sommer vor allem
eines – die Füße hochzulegen und wenn möglich bis September keine Telefonate
aus London anzunehmen.
Vor allem nicht von Peter
Compton.
Neugierig wog Llewellyn das
Päckchen in seiner Hand. Es war überraschend schwer.
Aus Hongkong?
Sicher eine Sammlung von
lackierten Essstäbchen, dachte Llewellyn grinsend und betrachtete die
Verschnürung genauer. Sie hatte die Odyssee von siebenundvierzig Jahren
unbeschadet überstanden. Die Enden der Schnüre waren auf der Rückseite des
Päckchens auf das Packpapier gesiegelt, mit rotem Siegellack. Der Major kippte
das Päckchen im Sonnenlicht etwas. Waren das chinesische Buchstaben auf dem
Siegel? Oder eine Krone und zwei gekreuzte Säbel?
Das Siegel jedenfalls war
unversehrt.
Kurzentschlossen griff
Llewellyn in seine Hosentasche und holte ein Messer heraus, klappte es auf und
durchtrennte die Schnur. Unter dem Packpapier kam eine unscheinbare, braune
Kartonschachtel zum Vorschein. Unbeschriftet, ohne jede Verzierung. Wer immer
Charles Parker 1969 etwas nach Glenfinnan in die schottische Einsamkeit
geschickt hatte, er hatte es nicht als Geschenk verpackt.
Der Deckel der Schachtel
ließ sich nur schwer abziehen. Es war, als hielte jemand von innen dagegen, als
wolle die Zeit ihr Geheimnis hüten und nicht preisgeben. Dann, mit einem Mal,
löste sich der Deckel. Was immer der unbekannte Sender an Parker verschickt
hatte, es war zusätzlich in einigen Seiten einer chinesischen Zeitung
eingepackt worden, die inzwischen vergilbt waren. Vorsichtig schlug Llewellyn
sie zurück. Zum Vorschein kam ein seltsam geformtes Messer mit kurzem
Ebenholzgriff, das in einer aufwändig verzierten Lederscheide steckte. Der
Major erkannte es sofort. Es war ein Khukuri, die traditionelle Waffe der
Nepalesen, ein schwerer Dolch, der seit dem 15.Jahrhundert fast unverändert
gefertigt wurde.
Vorsichtig zog Llewellyn das
Messer aus der Scheide.
Die Klinge war fast zur
Gänze mit einer rostbraunen Substanz bedeckt. Der Major sah näher hin, strich
vorsichtig mit dem Finger drüber. Zuerst dachte er, es handle sich um Rost.
Doch das war es nicht.
Es war getrocknetes Blut.
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